Das unendliche Spiel
(So viel möchtest du gerade nicht lesen? Hier gibt’s die Kurzfassung.)
Simon Sinek hat einen Bestseller geschrieben: The Infinite Game (Das unendliche Spiel). Wie er selber sagt, stammt die zentrale Idee aus einem einflussreichen Buch von Professor James P. Carse: Finite and Infinite Games: A Vision of Life as Play and Possibility (Endliche und unendliche Spiele: Die Chance des Lebens) aus dem Jahr 1986.
Dabei geht es nicht um Sportspiele, sondern eine Herangehensweise ans Leben. Sinek zum Beispiel arbeitet dieses simple Konzept für die Business-Welt aus, da es sich auf alle Lebensbereiche anwenden lässt.
Lass es mich vorweg nehmen: Sowohl integrale Bewegung als auch RIVERS und Open Hands sind unendliche Spiele.
In einer Nussschale nach James P. Carse
Einige Zitate sollen als Einstieg dienen:
«Es gibt mindestens zwei Arten von Spielen. Die eine könnte man als endlich bezeichnen, die andere als unendlich. Ein endliches Spiel wird mit dem Ziel gespielt, zu gewinnen, ein unendliches Spiel mit dem Ziel, weiterzuspielen.»
«Die Regeln eines endlichen Spiels dürfen sich nicht ändern, die Regeln eines unendlichen Spiels müssen sich ändern.»
«Endliche Spieler spielen innerhalb von Grenzen, unendliche Spieler spielen mit Grenzen.»
«Endliche Spieler sind ernsthaft, unendliche Spieler sind spielerisch.»
«Endliche Spieler gewinnen Titel, unendliche Spieler haben nichts als ihre Namen [die gegeben sind].»
«Ein endlicher Spieler verbraucht Zeit, ein unendlicher Spieler erzeugt Zeit.»
«Der endliche Spieler will ewiges Leben gewinnen, der unendliche Spieler strebt nach ewiger Geburt.»
(Übersetzung M. Schmid)
Das Spiel
Erst gilt es, dass wir uns über die Bedeutung des Spiels klar werden. Auch dies geschieht in einer Nussschale. Schon Simon Sinek bemerkt am Anfang seines Buches richtig, dass es verwunderlich sei, dass es das Buch überhaupt brauche. Dasselbe gilt für Bücher und überhaupt für Worte über das Spiel. Und doch brauchen wir sie. Das Buch der Bewegung widmet dem Spiel ein ganzes Kapitel und behandelt auch das unendliche Spiel.
Verwunderlich, darüber reden zu müssen, ist es daher, weil das Spiel die Methode der Evolution schlechthin ist, um sich selbst voranzutreiben. Das Spiel ist das A und O, wenn es um Entwicklung geht, sei sie evolutionär, sei sie individuell, sei sie körperlich, sei sie kognitiv, ja und wie wir gleich sehen werden, sei sie spirituell. Durch das Spiel geschieht Entwicklung. Auf die denkbar natürlichste Weise.
Ich möchte zwei Erlebnisse angeben, warum die Betonung des Spiels in unserer Zeit so wichtig ist. Das erste Erlebnis kommt aus meiner Arbeit im Umfeld mit Kindern. Da gibt es Kinder, denen man Spielfelder und Erlebnisräume eröffnen kann (und das müssen keine Bewegungsräume sein, das kann Lego, eine Puppe oder ein Spielzeugauto sein) und sie stehen ratlos da. Weil sie zuhause nicht spielen. Sie haben keine Spielsachen außer einen Bildschirm. Sie haben keine sozialen Inputs und Interaktionen, da oft beide Eltern am Arbeiten sind. Das Spiel entwickelt sich durch den Spieltrieb, und dieser ist ein Trieb wie jeder andere auch. Doch selbst das triebgesteuerte, zentrale Werkzeug der Evolution kann verkümmern. Das ist schockierend. Die Neurologie spricht zwar auch von der Neuroplastizität, dass also neue neuronale Verbindungen aufgebaut werden können. Doch werden die Grundlagen dafür nicht in einer organischen, natürlichen, spielerischen Entwicklung angelegt, sind Entwicklungen in späteren Phasen des Lebens extrem schwierig nachzuholen oder nicht mehr möglich.
Ein anderes Erlebnis kommt direkt aus den Korsika-Kursen und hat damit zu tun, dass in vielen Geistern der TeilnehmerInnen letztendlich Spiritualität und Körperlichkeit getrennte Dinge sind, und deshalb auch Spiritualität und Spiel, Achtsamkeit und Spiel. Konzepte von Achtsamkeit und Spiritualität sind einseitig verknüpft mit langsamen Bewegungen und Zuständen der Ruhe, Stille und des Wohlfühl-Einsseins. Diese Trennung tarnt sich gerne mit spirituellen Konzepten aus Traditionen, die entweder als endliche Spiele missverstanden werden oder tatsächlich endliche Spiele sind – darauf komme ich später zurück. Diese Trennung verunmöglicht es, den Wert des Spiels erkennen und anerkennen zu können. Hier zeigt sich der tiefe dualistische Graben, der unsere Kultur bis in die tiefsten Tiefen unseres Verstandes hinein durchdringt. Dies geschieht unsichtbar und unbemerkt, weil er zutiefst inkulturiert ist. Es ist exakt der Graben, den integrale Bewegung überwinden und heilen kann. Diese Überwindung und die immense Heilung und Lebensqualität, die sich daraus ergibt, ist eine zentrale Vision und Zuversicht der integralen Bewegung und den Korsika Retreats, den MOVEMENT ADVENTURES. Eine Vision, die dem gespaltenen Geist nicht zu vermitteln ist – weil sie verkörpert ist, aber auch, weil sie unendlich ist. Sie kann nur durch Einbezug des Körpers verwirklicht werden, und diese Verwirklichung kann nur damit geschehen, dass wir einen Weg gehen, der wieder und wieder erfahrbar macht, dass keine Spaltung, ja keine Trennung in irgend einer Form existiert. Ich habe in Reise zum Unmöglichen (S. 467-75) und im Buch der Bewegung eingehend darüber berichtet.
James Carse spricht über diesen Irrtum und seine Folgen:
«Spielerisch zu sein bedeutet nicht, trivial oder leichtsinnig zu sein oder so zu tun, als ob nichts von Bedeutung geschehen würde. Im Gegenteil, wenn wir spielerisch miteinander umgehen, beziehen wir uns als freie Personen aufeinander, und die Beziehung ist offen für Überraschungen; alles, was geschieht, hat eine Bedeutung.»
Das Spiel in integraler Bewegung
Korsika Retreats sind zutiefst von der Integraldynamik, und, konkretisiert, von der Methodik der integralen Bewegung und der RIVERS-Methode durchdrungen. Diese Methodik und Methode ist kein aufgesetztes Meta-System, sondern wirkt quasi von unten her, aus den Wurzeln. Genauer gesagt, es ist der Boden. Denn Integraldynamik, integrale Bewegung und RIVERS sind von unten her entstanden, aus der verkörperten Kognition. Im Rahmen der Integraldynamik beschreiben wir diese Urdynamik mit zehn Verben. Zehn offene, unendliche, sich gegenseitig beeinflussende Prozesse (Integraldynamik, S.31-59).
RIVERS hat vier Bereiche: BASES, RIDDLES, RHYTHMS und PLAY. (Mehr zu den einzelnen Bereichen gibt es hier.) Die BASES können durch viele andere Bewegungsmethoden ersetzt werden. Allenfalls können sie andere Methoden ergänzen. Unersetzlich sind hingegen die anderen drei Aspekte.
PLAY, das tatsächliche Spiel, ist also ein Teil der integralen Bewegung und zum Beispiel der Korsika Retreats. Genauer genommen sind die Bereiche RIDDLES, RHYTHMS und PLAY alles unendliche Spiele. Sie sind alle PLAY. Das Fundament der integralen Bewegung und der MOVEMENT ADVENTURES ist das unendliche Spiel. Was ich vorher als zentrale Vision und Zuversicht angetönt habe, die Überwindung der Trennung von Körper und Geist, mündet im Jargon der Integraldynamik in den Infinitionsprozess (Integraldynamik S.59-60, 510-11, 556-58, 626-29; Buch der Bewegung, Reise zum Unmöglichen S.278-79).
Das Unendliche im Moment
Wie zeigt sich das unendliche Spiel konkret in integraler Bewegung? Wo wir auch hinschauen, finden wir unendliche Spiele. In jeder Übung, in jeder Bewegung, in jedem Setting. Denn der Infinitiv (Infinity, Unendlichkeit) ist bereits in Form der Verben in den Wurzeln angelegt. Da wir das Infinity-Setting in allen Aspekten finden, kann und will ich im Folgenden nur exemplarisch einige Beispiele nennen. Ich will dabei nicht erklären, sondern auf eine Spur führen. Nehmen wir dazu als Ausgangspunkte einige Aussagen von James P. Carse und setzen sie in Beziehung zur integralen Bewegung und zu den MOVEMENT ADVENTURES.
Von Push zu Open
«Die Regeln eines unendlichen Spiels werden geändert, um zu verhindern, dass jemand das Spiel gewinnt und um so viele Personen wie möglich ins Spiel zu bringen.»
Das ist vielleicht das anschaulichste Beispiel: Im Laufe der Jahre vollzog sich ein Wandel vom Push Hands (Tuishou) zum Open Hands als einem zentralen Element des PLAY-Bereichs. Push Hands hat ein klares Ziel: Den Gegner aus dem Gleichgewicht zu stoßen, bzw. nicht aus dem Gleichgewicht gestoßen zu werden. Open Hands ist ein offener Prozess, der ein ganz anderes Ziel hat, nämlich, dass das Spiel zweier Spieler immer noch dynamischer werden kann, ohne jemals ein Ende zu finden. Das Setting an sich, die «Technik» und alles Andere ist genau dasselbe. Aber es gibt diesen kleinen, alles verändernden Unterschied im Mind-Setting.
Das Schöne daran ist, dass es dazu nur einen unendlichen Spieler braucht. Der andere kann sein endliches Spiel zu produzieren versuchen. Der der unendliche Spieler wird das Spiel trotzdem in einem unendlichen Setting spielen und wird auf das Spiel einwirken und es (eventuell) transformieren.
«Unendliche Spielerr stellen sich nicht gegen die Handlungen anderer, sondern initiieren eigene Handlungen in der Weise, dass andere darauf mit der Initiierung eigener Handlungen antworten werden.»
(Mehr zum Wandel von Push Hands zu Open Hands gibt es auch hier: Ebenen der Kampfkunst).
Transformation statt Definition: Verkörperte Unendlichkeit
«Weil unendliche Spieler sich darauf vorbereiten, von der Zukunft überrascht zu werden, spielen sie in völliger Offenheit. Es ist nicht eine Offenheit im Sinne von Freimütigkeit, sondern eine Offenheit im Sinne von Verletzlichkeit. Es geht nicht darum, seine unveränderliche Identität, das wahre Selbst, das schon immer da war, zu offenbaren, sondern darum, sein unaufhörliches Wachstum, das dynamische Selbst, das noch werden muss, zu offenbaren. Der unendliche Spieler erwartet nicht nur, durch die Überraschung unterhalten zu werden, sondern durch sie transformiert zu werden, denn die Überraschung verändert nicht irgendeine abstrakte Vergangenheit, sondern die eigene persönliche Vergangenheit.»
Das dynamische Selbst ist immer dialogisch und daher mehr als Selbst. Integrale Bewegung ist immer ein Dialog. Dieser muss nicht zwingend mit einem anderen Menschen stattfinden. Auch eine integrale Solo-Praxis ist ein Dialog mit den Verben-Lehrern, mit dem Raum, dem Boden, der Natur. (Reise zum Unmöglichen, S.25-113) Integrale Bewegung ist Ent-Selbstung in dem Sinn, dass das Selbst nicht im Mittelpunkt steht, sondern die Beziehung. Ob es ein wahres Selbst gibt, das schon immer da war, ist eine metaphysische Frage. Integrale Bewegung ist post-metaphysisch, weil sie die Dualität von Meta und Physis überwindet und in eine ganz andere Form der «Antwort» integriert. Eine Antwort, die nicht als Standpunkt dasteht, sondern von Moment zu Moment als Fluss in Beziehung und Vernetzung verkörpert wird.
Daher ist es nur folgerichtig, dass integrale Bewegung nicht in den spirituellen Mainstream investiert, der da heißt: «Es geht immer darum, bewusst zu machen und bewusst zu sein. Bewusstsein heilt. Bewusstsein ist die Rettung.» Der Mensch ist unglaublich vielschichtig, und nur das wenigste dieser Vielschichtigkeit wird jemals bewusst. Das Unbewusste ist der Quell unserer Potenzialentfaltung und der Intuition, der strukturierten Kreativität und der Heilung. Es geht nicht um Bewusstsein, sondern um Entfaltung und Verkörperung (und damit verkörperte Bewusstmachung im Moment, nicht als gedachtes Konzept) der Immensität, die wir sind. Falls wir «Selbst» definieren wollen, dann ist es im Infinity Game unentwegte Entfaltung.
«Der endliche Spieler will ewiges Leben gewinnen, der unendliche Spieler strebt nach ewiger Geburt.»
Das heißt, er/sie sucht und findet die unabläßige Entfaltung. Nicht im Sinne einer Optimierung, sondern der Verwirklichung des Potenzials des Moments.
Offenheit ist alles
«Im unendlichen Spiel… [spielt man] in Richtung des Offenen, des Horizonts, in Richtung der Überraschung, wo es nichts zu planen gibt. Es ist eine Art von Spiel, die völlige Verletzlichkeit erfordert.»
Unendliche Spieler wissen (oder erfahren sehr schnell): Kaum kommen wir in Bewegung, kommt der ganze Mensch in Bewegung, in seiner ganzen Vielschichtigkeit. Der Prozess ist offen, was und wer dabei herauskommt ist offen. Wenn wir offen sind und offen bleiben, überraschen wir uns unentwegt selbst. Dies verlangt die Bereitschaft zur Verletzlichkeit. Verletzlichkeit wird zur Kraft. Verletzlichkeit ist das Tor zur Transformation.
Öffnen geschieht im Rahmen integraler Bewegung in der Köbi-Dynamik: zentrieren, öffnen, weiten, begegnen, integrieren. Erst durch das Zentrieren sind wir überhaupt ein Player. Das Öffnen ist nie Selbstzweck, sondern führt über das Ausdehnen ins Begegnen und Integrieren. Müsste man die Dynamik auf einen Aspekt reduzieren, wäre es das Öffnen. Öffnen ist immer ein Wagnis. Es ist immer das Loslassen von Vorstellungen, wie und wer wir seien, was geschehen müsse, wie wir uns oder andere sich zu verhalten hätten. Öffnen gestaltet. Öffnen formt unsere Gestalt. Und damit den ganzen Menschen.
«Die Überraschung ist der Grund für das Ende des endlichen Spiels; sie ist der Grund für die Fortsetzung des unendlichen Spiels.»
Einfach Mensch
«Wenn eine Person nur dem Namen nach bekannt ist [statt mit Titeln, die durch endliche Spiele gewonnen werden], richtet sich die Aufmerksamkeit der anderen auf eine offene Zukunft. Wir können einfach nicht wissen, was uns erwartet. Wenn wir uns mit dem Namen [statt Titeln] ansprechen, ignorieren wir alle Skripte und eröffnen die Möglichkeit, dass unsere Beziehung zutiefst wechselseitig wird. Dass ich deine Zukunft jetzt nicht vorhersagen kann, ist genau das, was meine unvorhersehbar macht. Unsere Zukünfte gehen ineinander über. Was deine und meine Zukunft ist, wird zu unserer. Wir bereiten uns gegenseitig auf Überraschungen vor. Titel sind Abstraktionen; Namen sind immer konkret.»
So kommen wir mit unseren Namen, die wir uns nicht selber gegeben haben, in die integrale Bewegung oder die MOVEMENT ADVENTURES. Wir kommen nicht als Lehrer oder Schüler, Fortgeschrittene oder Anfänger, nicht als Meister, Gurus, Wissende... Wir kommen als Menschen. Dies erst ermöglicht den wahren Dialog, sei dieser zwischen Menschen, sei dies zwischen dem Praktizierenden und der Bewegung oder zwischen dem Praktizieren und einem Verb wie «zentrieren», sei dies mit der Landschaft, der Natur. Darum bin ich ein Vermittler, kein Lehrer, geschweige denn Meister oder Guru.
Die Diskussion um Meister und Gurus im Westen ist mannigfaltig, und ich denke, die Lösung liegt im unendlichen Spiel. Alle anderen Versuche sind endliche Lösungsversuche, welche nur Verlierer generieren.
Traditionen können nur unendlich sein – sind es aber oft nicht
In diesem Zusammenhang lohnt es sich jetzt auch, die Traditionen kurz zu beleuchten. Wenn wir große Ströme betrachten, sind Verallgemeinerungen unumgänglich. Doch verallgemeinert können wir sagen: Diejenigen Methoden, die in einer Befreiungslehre wurzeln, sind Finite Games. Das ist der Buddhismus, der Hinduismus und das (gängige, falsch verstandene) Christentum. Wohlgemerkt, das sind sehr viele Traditionen und Wege: Die meisten Meditationswege und alle Yoga-Wege. Sie alle streben auf eine Befreiung hin. TeilnehmerInnen mit einem solchen Mind-Setting sind endliche Spieler. Diejenigen, die im Rahmen solcher Traditionen das Unendliche anstreben – sie nennen es Erleuchtung, Befreiung, Erwachen, Erlösung – spielen das endliche Spiel. Solche TeilnehmerInnen brauchen LeiterInnen, die «realisierte Meister» oder ähnliche Titel tragen, mit simplen Menschen kommen sie nicht zurecht. Sie brauchen eine Projektionsfläche für ihr endliches Spiel, das sich als Befreiung ins Unendliche, Absolute tarnt. Menschen mit Namen eignen sich nicht für diese Projektionen, nur Menschen mit Titeln.
Nicht nur die spirituellen Befreiungswege sind endliche Spiele. Auch die meisten Kampfkünste sind endliche Spiele. Denn es geht ums Gewinnen. Das ist bei 100% der Kampfsportarten und 99% aller Kampfkünste der Fall. Die Ausnahme mit dem einen Prozent ist hier das Aikido – und Open Hands.
Eine Taiji-Form lernen, einen Yoga-Flow lernen, ein Qigong-Set lernen, Aikido-Techniken aneinanderreihen, den Handstand lernen und so weiter: endliche Spiele. Endliche Spieler brauchen daher immer noch mehr davon, noch mehr Abwechslung. Für unendliche Spieler sind dies Gefäße der Unendlichkeit. Daher reicht ihnen ein absolutes Minimum an intelligent ausgewählten Gefäßen.
Auch Therapiemethoden, die sich mit der Lösung von Problemen und Traumas befassen – mit der Lösung der Vergangenheit – sind endliche Spiele. Ebenso die meisten Sportarten. Falls es dabei nicht ums unmittelbare Gewinnen geht, dann doch meist um Optimierung, ein weiteres endliches Spiel.
Der Daoismus mag hier vielleicht ein Gegengewicht geben, und damit das daoistische Qigong. Was jedoch auch dieser Tradition, wie den anderen östlichen Traditionen im Kern fehlt, ist das Element der Evolution, das erst durch den Westen installiert wurde, und welches sich zu integrieren lohnt (Buch der Bewegung).
Das heißt nun nicht, dass alle, die sich in diesen Traditionen und Wegen bewegen, endliche Spieler sind. Es heißt, dass diejenigen, die sich in einer endlichen Tradition bewegen, damit aber auf unerklärliche Weise nicht im Frieden sind, in integraler Bewegung, RIVERS, dem Korsika MOVEMENT ADVENTURE eine neue Heimat finden können, ohne ihre Traditionen und Wege aufgeben zu müssen. Denn sie sind wahrscheinlich unendliche Spieler.
Ebenso kann man die unendlichen Spiele wie Aikido, Open Hands, integrale Bewegung und die MOVEMENT ADVENTURES für endliche Ziele missbrauchen. Etwa wenn man sich nur in diesen Methoden bewegt, um sich oder anderen etwas zu beweisen.
«Genauso wie ein unendliches Spiel Regeln hat, hat eine Kultur eine Tradition. Da die Spielregeln in einem unendlichen Spiel frei vereinbart und frei verändert werden, wird eine kulturelle Tradition sowohl übernommen als auch in ihrer Übernahme transformiert.»
Nun kann man erwidern, dass alle diese Jahrtausende alten Wege kein Ende haben, weder im Individuum, noch als Weg an sich. In der Tat gibt es in jeder Tradition konservative und vorwärts treibende Kräfte. Jede Tradition ist ein Fluss und von da her unendlich. Doch das Mindsetting des Flusses an sich kann trotzdem endlich sein.
Auf das Individuum bezogen kann man argumentieren, dass diese Wege unendliche Spiele sind, da man sich immer noch mehr optimieren kann. Das Optimieren entspringt jedoch einem endlichen Setting, denn es hat ein eindeutiges Ziel, das es, wenn nicht früher, doch sicher später zu erreichen gilt. Das Gegenteil der Optimation ist die Kultivation. Und diese ist der Kern integraler Bewegung.
«Gegen Überraschung gewappnet zu sein, heißt trainiert zu sein. Auf Überraschung vorbereitet zu sein, heißt ausgebildet zu sein.»
Paraphrasiert: «Gegen Überraschung gewappnet zu sein, heißt optimiert zu sein. Auf Überraschung vorbereitet zu sein, heißt kultiviert zu sein.»
Kultur und Kultivation
«Kultur ist ein unendliches Spiel. Kultur hat keine Grenzen. Jeder kann Teilnehmer einer Kultur sein – überall und zu jeder Zeit.»
Kultur ist Ausdruck von Kultivation. Kultivation ist die zentrale, entscheidende Dynamik der integralen Bewegung. Sie ist das, was aus integraler Bewegung viel mehr macht als Sport, Performance oder Therapie, und sie ist das, was aus RIVERS oder den MOVEMENT ADVENTURES viel mehr macht als «Bewegungsfreude im Freien».
Die Kultivationsdynamik ist das Herz der Dynamik, die das unendliche Spiel ausmacht.
Selbstähnlich, aber nicht dasselbe: unendliche Unwiederholbarkeit
«Ein unendliches Spiel kann nicht zu einem Ende gebracht werden, weil es nicht wiederholt werden kann. Die Unwiederholbarkeit ist allgemein ein Merkmal der Kultur.»
Jede Korsika-Woche, jedes MOVEMENT ADVENTURE ist komplett anders. Das war schon immer so, obwohl die Grundstruktur immer dieselbe ist. Für endliche Spieler, die wiederkommen, kann das ein Problem darstellen. Sie kommen mit Vorstellungen und Erwartungen, genährt aus der Vergangenheit, sei es aus vergangenen Wochen oder aus Büchern. Diese Erwartungen werden dann oft nicht erfüllt. Für unendliche Spieler hingegen ist diese Andersartigkeit die pure Freude, das Wunder, das Staunenswerte an diesen Tagen. Sie kommen als unbeschriebene Blätter und gehen reich beschenkt, um im nächsten Jahr wieder unbeschrieben zu kommen. (Unbeschrieben können auch die endlichen Spieler kommen, die KonsumentInnen, die «einfach mal kommen und schauen, was die Woche so bringt, mit keinen Erwartungen». Außer der unausgesprochenen Erwartung, dass man bedient wird, ohne sich einbringen zu müssen. Das bringt nichts.) Die unbeschriebenen unendlichen Spieler bringen sich mit und bringen sich ein.
«Unendliche Spieler können nicht sagen, wann ihr Spiel begonnen hat, und es ist ihnen auch egal. Es ist ihnen aus dem Grund egal, weil ihr Spiel nicht an die Zeit gebunden ist. Tatsächlich ist der einzige Zweck des Spiels, zu verhindern, dass es zu einem Ende kommt, um alle im Spiel zu halten.»
Die Korsika-Wochen starteten 2004, doch sie hatten eine lange Vorgeschichte. Meine startete spätestens 1988, als ich mich in den Traditionen zu bewegen begann. Bewegung zu erforschen war jedoch auch als Kind schon ein großes, leidenschaftliches Thema. Doch die Vorgeschichte der MOVEMENT ADVENTURES reicht viel weiter zurück. Wie ich in Reise zum Unmöglichen andeute (S.184-93), bis zu den alten Griechen. Und noch weiter: in die Urzeit, in die Anfänge der Evolution. Das ist nicht spekulativ, sondern pure Realität. Wir erforschen die Evolution des Körpers und des Geistes und kultivieren sie, sind Teil davon. (Siehe z.B. Lieberman, Unser Körper: Geschichte, Gegenwart, Zukunft). Das ist der Aspekt der natürlichen Bewegung, die den physiologischen Kern integraler Bewegung bildet (Buch der Bewegung Kapitel Movement).
Das ist ein externer zeitlicher Faktor, der die MOVEMENT ADVENTURES ausmacht. Es gibt auch einen internen oder innerlichen zeitlichen Faktor, den wir in den MOVEMENT ADVENTURES und durch integrale Bewegung erforschen und kultivieren, und dieser führt bis ins Nicht-Zeitliche, in die Zeitfreiheit. Ein Zustand, in welchem die Nicht-Linearität der Zeit verwirklicht ist und in einem Holomovement ausgedrückt wird.
Wo Zeitfreiheit ist, ist Transzendierung des Raumes. Korsika ist eine endliche Insel, die Wirkung der MOVEMENT ADVENTURES geht weit über diese Grenzen hinaus und weit in den Menschen hinein.
«[Es] bedeutet nicht, dass das Spiel mit dem Tod zu Ende ist; im Gegenteil, unendliche Spieler bieten ihren Tod als Möglichkeit an, das Spiel fortzusetzen. Deshalb spielen sie nicht um ihr eigenes Leben; sie leben für ihr eigenes Spiel. Da dieses Spiel aber immer mit anderen stattfindet, ist es offensichtlich, dass unendliche Spieler sowohl für das fortgesetzte Leben der anderen leben als auch sterben.»
Reise zum Unmöglichen
Reise zum Unmöglichen heißt das Buch, das aus den MOVEMENT ADVENTURES entstanden ist. Für endliche Spieler ist diese Aussicht – »Reise zum Unmöglichen?» – aussichtslos und daher keine Reise Wert. Für unendliche Spieler ist es die ultimative Motivation. Es ist das große Abenteuer, in jedem Moment das Unmögliche zu verwirklichen. Obwohl die Reise nach Korsika eine endliche Reise ist, ist die Reise, die wir mit und in unserem Körper und im dialogischen Austausch auf Korsika machen, eine unendliche.
Sinek:
«In unendlichen Spielen kommen und gehen die Spieler, die Regeln sind veränderbar, und es gibt keinen definierten Endpunkt. In einem unendlichen Spiel gibt es keine Gewinner oder Verlierer; es gibt nur ein Vorwärts und ein Dahinter.»
Ich freue mich unendlich darauf.
Und zum Schluss C.G. Jung:
«Die entscheidende Frage für den Menschen ist: Bist du auf Unendliches bezogen oder nicht? Das ist das Kriterium seines Lebens.»
Bist du ein unendlicher Spieler, eine unendliche Spielerin? Falls du es bis hier geschafft hast: definitiv. Falls nicht: vielleicht doch.
Dies ist ohnehin kein Titel. Wir lassen den Begriff gleich wieder los.
Mensch, ich freue mich auf dich!