Da krieg ich Zustände

 
 
 

Zustände und Perspektiven

Ich habe an anderer Stelle bereits die wichtige Unterscheidung zwischen Zuständen, Stufen und Statur gemacht. Dies sind ganz natürliche Unterscheidungen in einem Infinity Game, einem Setting, das sich fortwährend transformiert und integriert, wohingegen es Unterscheidungen sind, die in einem anderen «Infinity Game» nicht gemacht werden: dem ewigen Kreisen um sich selbst.

Der Unterschied hat vor allem mit der Bereitschaft zu tun, die eigene Perspektive immer wieder zu reflektieren, sich zu verorten. Die Frage «Wer bin ich» kreist ohne die Frage «Wo bin ich» ewig um sich selbst. «Woher betrachte ich die Dinge?» Dies ist eine Angelegenheit der Stufen. Im Buch der Bewegung (S.94-95) gebe ich das Beispiel eines Turms mit verschiedenen Stockwerken und Fenstern. Nicht nur, dass man in der Regel aus dem immer selben Fenster schaut. Normalerweise hält man sich auf einem einzigen Stockwerk auf, völlig in Unkenntnis der Tatsache, dass man sich in einem Turm befindet und andere Stockwerke und Aussichten erkunden könnte.

Dass die Statur das Resultat von Zuständen und Stufen ist, ist meist eine fremde Idee. Doch nicht nur das: Die meisten Traditionen und zeitgenössischen Angebote unterscheiden auch nicht zwischen Stufen und Zuständen. Was bleibt, sind die Zustände. Wellness.

Integral informierte Naivität

«Keine Sorge», könnte man sagen, «Zustände verdichten sich zu Ebenen, wenn sie beharrlich eingenommen werden. Der integrative Prozess läuft also sowieso.» Das ist jedoch nicht so. Was in der Theorie einleuchten mag und als Zuversicht schön klingt, zeigt sich nicht in der Realität. Menschen können jahrzehntelang in andere Bewusstseins-Zustände kommen, ohne dass sich ihre Werte-Ebene, welche das deutlichste Zeichen für einen dauerhaften Bewusstseinswandel ist, jemals ändert. Im Gegenteil, das Erleben von anderen Bewusstseins-Zuständen kann Ebenen sogar erhärten, weil die Zustände immer und immer wieder sich selbst bestätigend von derselben Ebene aus gemacht werden, völlig ahnungslos, dass es so etwas wie Ebenen überhaupt gibt. (Mehr Details dazu zum Beispiel in Ken Wilber, Integrale Spiritualität.)

Warum sind nicht alle Zustände transformativ? Was braucht es, damit ein Zustand transformativ ist? Es zeigt sich, dass es zweierlei Arten Zustände gibt. Eine davon hat eine transformative Kraft. Die andere entfaltet diese Kraft nicht. Im Gegenteil, sie fördert das Anhaften.

Es gibt also Zustände und Zustände. Zustände, die tatsächlich helfen, dass Zustände zu Ebenen werden, und andere Zustände, die sich ohne transformative Wirkung spurlos verflüchtigen. Nicht überraschend sind es die letzteren Zustände, die das Anhaften und gar die Sucht fördern können und Gewohnheiten verhärten, wohingegen dies mit den ersteren nicht der Fall ist.

Substanzen und Konsum

Die von außen induzierten Zustände werden durch Musik/Klänge, Düfte, Substanzen oder Suggestionen herbeigeführt, oft auch durch eine Mischung aus diesen Zutaten. Diese Zustände werden konsumiert, ausgelöst durch einen Konsum dieser Zutaten. Allenfalls gibt es positive Effekte, wenn Mikrodosen gewisser Substanzen, zum Beispiel LSD, eingenommen werden. Aber auch wenn die Wissenschaft das einmal beweisen sollte: Der isolierte, unwissende, naive Einsatz solcher Substanzen wird wohl nicht denselben transformativen Effekt haben wie ein Gesamtsetting, in welchem die Substanz nur eine kleine Zutat ist.

Was uns in unserem Rahmen aber vor allem interessieren sollte, sind die Suggestionen, denn ihnen begegnet man im Bewegungsbereich oft. «Spüre das Qi» «Nimm wahr, wie du dich öffnest und eins bist mit allem» «Spüre, wie sich alle deine Chakren öffnen», «Eine grüne Farbe strömt aus deinem Herzen»…

Solche Suggestionen sind keine Kultivationsimpulse, weil sie einen ganz bestimmten Eindruck entstehen lassen wollen, den sie bereits vorweg nehmen, und weil sie gleichzeitig im Unbestimmten bleiben. Dieses Unbestimmte ist aber kein didaktisches Mittel, das Freiheit gibt, sondern basiert auf der fehlenden Erfahrung der instruierenden Person, die daher leere Worthülsen und Phrasen gebraucht. Eine erfahrene Person könnte Begriffe wie «Qi» oder «Chakren öffnen» als Empfindungen konkretisieren, nicht, um noch spezifischere Suggestionen zu geben, sondern um die Wahrnehmung konkret auf mögliche Empfindungspotenziale aufmerksam zu machen.

Poesie und Analogien

Das Aufmerksammachen auf mögliche Empfindungspotenziale ist die eine Art, Kultivationsumpulse zu setzen. Die andere arbeitet tatsächlich auch mit Bildern. (Viele solche Bilder findest du in Integraldynamik.) Doch diese Bilder sind nicht vorschreibend, sondern offensichtlich poetisch. Poetische Bilder können das Tor zu anderen Wahrnehmungsmöglichkeiten öffnen, und damit zur Realität, weil sie nicht vorgeben, real zu sein (dazu auch Reise zum Unmöglichen S. 39-40). Es sind Analogien. Solche analogen, poetischen Kultivationsimpulse sind immer offen. «… als ob du unter einem Wasserfall stehen würdest» «… öffnen, so natürlich und entspannt wie die Blume am Morgen» «… entspannen, so wie das Meer entspannt ist, wenn der Wind darüberstreicht und Wellen erzeugt. Der Atem ist der Wind, der Körper das Meer». (Diesen Impuls gibt man vorzugsweise am Meer.)

Es heißt nicht: «Spüre den Wasserfall. Nimm wahr, wie du dich als Blume öffnest.» Natürlich können wir sagen: «Suche dieses Feeling des Wasserfalls. Suche es mit deiner Bewegung.» Damit aber geben wir dem Praktizierenden die Möglichkeit, die Kraft, die Macht, etwas zu entdecken, das noch nicht entdeckt ist. Vielleicht wirkt das Bild, vielleicht auch nicht. Dann wirkt ein anderes.

Das sind kleine, feine Unterschiede zwischen Suggestionen und Impulsen. Impulse geben Möglichkeiten, Suggestionen schreiben vor. Sie sagen dir, was du wahrnehmen sollst. Nimmst du es nicht wahr, kommt eine ganze Maschinerie an Reaktionen von innen und außen in Gang. Und schon geht es um Werte-Ebenen, von denen man ja gar nicht weiß, dass sie existieren. Denn die rationale Ebene interpretiert anders als die pluralistische. Die Interpretationen äußern sich dann in Gedanken, Aussagen und Gefühlen wie «Ist doch alles esoterische Scheiße», «Ich bin nicht feinfühlig genug», «Sie steht sich mit ihrem Kopf selbst auf dem Schlauch, es ist unglaublich» und solche Dinge eben.

Diejenigen, die Impulse geben, müssen sich dieser feinen Linie bewusst sein. Diese feine Linie macht es aus, ob etwas eine selbstbestätigende und verhärtende Kraft besitzt oder eine transformative Kraft entfaltet.

Kultivations-Impulse sind in diesem Sinn substanzlos. Sie eignen sich nicht zum Konsum, sondern sind Handlungs-Impulse und Bewegungs-Räume. Darum kann man sich von integraler Bewegung und RIVERS und den MOVEMENT ADVENTURES nicht berieseln lassen. Darum entfalten sie eine transformative Kraft.

 

 

PS: Eine andere Form des spirituellen Druckmachens hat nicht mit Suggestionen, aber mit Aufforderungen zu tun: «Sei immer im Moment.» «Lebe jeden Augenblick aus dem Herzen.» «Sei immer achtsam.» Hier werden Aufforderungen ausgesprochen, die nicht in der Realität verankert sind, und die der Auffordernde sehr wahrscheinlich selbst höchstens in seiner selbstgebastelten Blase dauerhaft umsetzen kann. Das hat nicht mit Kultivation, sondern mit Optimierung zu tun. Chungliang Al Huang (sieh dir dieses Video an!) gibt in einem seiner Bücher (bitte frag mich nicht welches) ein Beispiel, wie er einem Studenten von Achtsamkeit in jedem Moment erzählt und gleich darauf die Treppe runterstolpert. So geht das. Ah-ha!

PPS: Natürlich ist nichts gegen unterstützende Impulse wie Musik und Ambiente einzuwenden, wenn sie richtig eingesetzt werden. Kennst du diese Musik schon? SPOTIFY | ITUNES/APPLE MUSIC

 

 
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