Bewegte Geschichten #3 | Hallende Stille
Einmal, in Korsika, an einem lauen Herbstabend. Unser Grüppchen hatte sich zusammengefunden, um zu speisen, zu reden, zu lachen und zu diskutieren. Eine Diskussion zwischen zwei Teilnehmern wurde engagierter. Über was sie diskutierten, weiß ich nicht mehr. Auf dem Höhepunkt, das heißt kurz vor der Eskalation, an jener Stelle, an der man eingestehen müsste, dass man eigentlich über gar nichts diskutiert hat, sondern nur seine Position verteidigte, also einen Standpunkt einnahm statt sich zu bewegen, wurden sie und wir alle still.
Die Stille dauerte eine Stunde. Sie war nicht bedrückend. Sie war einfach still. Und bewegend.
Kürzlich hatte mich ein Teilnehmer von damals darauf angesprochen. «Weißt du noch damals, in Korsika vor so vielen, zehn oder mehr Jahren, diese Stille.»
Ich wusste noch. Sie hallt nicht nur in ihm noch lange nach.
In einer Ausbildung, ein paar Jahre vor dieser Stille, hatte ich schon einmal etwas Ähnliches erlebt. In einer Gruppe von etwa 75 Leuten hatten wir eine psychodynamische Übung gemacht. Ich erinnere mich nicht mehr an die Übung selbst. Ich erinnere mich, wie wir danach alle am Boden saßen und die Lehrer und Assistenten den Wänden entlang auf Stühlen. Es kam die Zeit für ein "Sharing", die Gelegenheit zum Erlebnisbericht und Austausch.
Niemand sagte etwas. Alle waren still. Nicht, weil es nichts zu sagen gegeben hätte. Wir waren gemeinsam still, weil es die richtigste Form des Austausches war. Weil wir damit die Tiefe und Fülle des Lebens und der Gemeinschaft ausloteten.
Gemeinsam still. In diesen Formen der Stille fand der Dialog am Ende der Diskussion statt. Ein Dialog, der bis heute wirkt.
Manchmal ist es das größte Geschenk, wenn man gemeinsam still sein kann.
Ein Geschenk nenne ich das deshalb, weil beide Situationen nicht geplant waren. Es waren keine "Silent Retreats“, bei denen Stille das Gebot waren. Diese habe ich auch erlebt, doch ironischerweise war das größte Geschenk in einem solchen Retreat das Geschenk eines (verbotenen) Gesprächs («Das darfst du nicht», waren ihre ersten Worte. Gibt es einen besseren Einstieg in ein Gespräch), draußen, auf der Parkbank, bis in alle Nacht.
Das Wichtige ist, offen zu sein, damit solche Momente Gestalt annehmen können. Das Unerwartete erwarten, ohne es anzustreben oder konstruieren zu wollen. Manchmal finden wir Stille in der Weite des Horizontes oder im Rauschen des Windes. Manchmal finden wir sie im größten Durcheinander einer Großstadt. Wir können sie überall finden, weil sie unser Fundament ist. Sie ist immer da.
Und wenn diese Stille, die immer da ist, in Gestalt eines anderen Menschen auf uns zukommt, ist dies das größte Geschenk. Den eigenen innersten Kern in den Augen eines anderen Menschen zu sehen, in einer Berührung zu spüren, im Atem des Anderen zu hören. Werden wir gemeinsam still, verschwindet die oberflächliche Trennung zwischen uns. Die Unendlichkeit wird Gegenwart, die Erinnerung wird Zukunft, ein kurzer Moment währt immer und bringt die Ewigkeit in Schwingung. So werden wir unsterblich.
Denn das waren wir schon immer.
©Martin Schmid