Ich, Bewusstsein, Spiritualität

 
 
 

Große Begriffe…

Widmen wir uns kurz den Großen: Ich, Bewusstsein, Spiritualität. Damit wir uns nachher vielleicht noch etwas freier bewegen können. Die Großen werden ganz verschieden definiert. Eine Definition von Bewusstsein des Physikers David Bohm, den ich auf meinem Weg immer wieder kreuze, lautet so: Bewusstsein ist die Verbindung zum Ganzen. Daran anschließen möchte ich: Spiritualität ist die Verkörperung des Ganzen. Denn in allen Definitionen von Spiritualität, denen ich bis jetzt begegnet bin – und es waren viele! – ist nie der Körper oder das Verkörpern vorgekommen.

Das Ganze ist das differenzierbare Ungeteilte. Das Ganze ist die implizite Ordnung und deren konkrete Ausgestaltung im einzigartigen Moment. Verkörperung des differenzierbaren Ungeteilten geschieht natürlicherweise und logischerweise nie getrennt. Verkörperung ist daher immer auch Enaktion, partizipierendes und mitgestaltendes Handeln. Sie findet nicht in einem isolierten Ich-Bereich statt. Verkörperung endet nicht auf der Hautoberfläche. 

Bewusstsein (und als Symbol absoluten Bewusstseins: Erwachen oder Erleuchtung) ist also nicht die Fähigkeit, alles zu wissen. Darum ist es ein seltsames Phänomen, dass man Gurus quer durchs Band alles fragt und sie scheinbar auf alles eine Antwort haben. Bewusstsein ist die Fähigkeit, die Verbindung zum Ganzen zu halten. Nicht das Unbewusstsein möchte diese Verbindung trennen, sondern das Ich. Denn letztendlich existiert das Ich oder Ego nur in der scheinbaren Trennung. Das Bezogensein ist wesentlich.

Spiritualität ist die Fähigkeit, dieses Ganze ungebrochen zu verkörpern. Dabei ist immer noch der Großteil des Ganzen unbewusst. Durch den Akt des Verkörperns als höchste Integrationsstufe fällt jedoch Trennendes, Nicht-Funktionales wie die eben erwähnten Mechanismen des Ich weg, während die brauchbaren Aspekte in den Fluss im wahrsten Sinn des Wortes eingegliedert werden. Denn natürlich hat das Ich eine wichtige Funktion. Es geht nicht darum, das Ich loszulassen, sondern es zu differenzieren und zu integrieren. Was losgelassen wird, ist die Identifikation, nicht die Identität. Diese Lösung von der Identifikation ist die natürliche Folge des Differenzierungs-Integrations-Prozesses.

Interpretationen sind um so wichtiger, je weniger Raum vorhanden ist

Auf dieser Basis können wir sagen, dass es in integraler Bewegung nicht darum geht, dass jede Bewegung bewusst ist, sondern dass die riesige Anzahl unbewusster Vorgänge ihrer vernetzten, ungeteilten Funktion nachgehen kann. Darum können wir sagen, dass wir das Natürliche kultivieren. Das Zuviel, das Gemachte, das Gekünstelte, das Aufgesetzte fällt weg. 


Wenn etwas kein Etwas ist…

Da das Bezogensein, das Dazwischen, das In-Between oder die Schnittmenge (alles erbärmliche Versuche, etwas zu benennen, das kein etwas ist) das Eigentliche ist, sind Definitionen von «Selbst» und «Bewusstsein» als «etwas», um die es in einem Großteil der Auseinandersetzung in einem psychologischen oder spirituellen Rahmen normalerweise geht, zweitrangig. 

Nomen sind um so wichtiger, je weniger Verben gelebt werden

Wenn Bewusstsein die Verbindung zum Ganzen ist, heißt das, dass Bewusstsein ein Akt ist, ein Akt des Wahrnehmens, und gleichzeitig ein mitgestaltender Akt. Als Akt kann es in verschiedenen Verben beschrieben werden, und «wahrnehmen» ist das übergeordnete Verb. Somit ist auch klar, dass Bewusstsein fließend ist, denn Verben beschreiben eine Dynamik. In Kontakt sein, Dialog sein, Container sein, Dynamik fördern, (in) Bewegung sein, Blockaden und Reaktionen (selbst eine Form von Blockaden) abbauen, solche Aspekte sind erstrangig. 


Das Ich

Interpretationen sind um so wichtiger, je weniger ein Raum-Container vorhanden ist. «Raum für Interpretation» ist eine irreführende Aussage. Darum, wieder und wieder: integrale Bewegung arbeitet vor allem mit Raum.
Nomen sind um so wichtiger, je weniger Verben gelebt werden. Darum, wieder und wieder: es geht um das Fließen. Fließen und Raum sind zwei Aspekte desselben.
Interpretationen sind nachträgliche Gedanken, wobei wir das «Nachträglich» streichen können, denn es ist eine Verdoppelung. Gedanken sind immer nachträglich. Gedanken sind immer Reaktionen, sind Konstrukte, Interpretationen und schlicht: Trennungen. Auch die Emotionen, welche durch Gedanken erzeugt werden, sind Trennungen, sind verkörperte Reaktionen dieser Reaktionen. (Das heißt natürlich nicht, dass jede Emotion oder jedes Empfinden eine Reaktion ist.) Das Ich ist dann emotional. Gedanken äußern sich durch das Ich in Reaktionsmustern, in Meinungen, Urteilen, ja Gewissheiten. Das Ich ist ein Funktions- und Reaktions-Konstrukt aus Gedanken. Das Ich ist eine Kontraktion, denn es entstand, um sich von der grenzenlosen Welt abzugrenzen. Es erzeugt daher Kontraktion. Das Gegenteil davon und das Gegenmittel ist das Öffnen und die Enaktion, mitgestaltendes Handeln. Darum, wieder und wieder: Öffnen ist der Schlüssel. Müsste man sich auf ein Verb der Integraldynamik beschränken, wäre es öffnen. Daraus folgt alles.

Jeder Gedanke ist eine Trennung

Wer den Flow-Zustand kennt, sei es in Solo-Bewegung, im Open Hands, in etwas ganz Anderem, im Lieben, Dankbarsein, Schreiben, Komponieren, Meditieren, weiß um dieses offene Mitgestalten in völliger Ungetrenntheit, und weiß: das hat nichts mit Gedanken zu tun, nichts mit Kontraktion und nichts mit einem Ich. Auch Konzentration und Fokus brauchen kein Ich. Sanft fokussieren und offen konzentrieren: zwei grundlegende Kompetenzen, welche integrale Bewegung kultiviert. 

Ich (sic!) brauche nach längeren Movement-Sessions jedweder Art, nach dem Schreiben, Komponieren, einem tiefen und weiten Dialog jeweils unter Umständen sehr lange, um wieder ein Ich zu finden. Ich muss mich wieder in «etwas» verdichten, um wieder egoisch handeln zu können. Dasselbe sehe ich in anderen, wenn sie aus einer Versenkung auftauchen. Alle diese Flow-Aktivitäten erzeugen kein Ich und keine Gedanken, keine Trennungen und keine Reaktionen. Die nachträglichen Interpretationen erzeugen diese. «Nachträglich» kann Sekundenbruchteile bedeuten. 



Sinne und Sinn

Ein erster Schritt in die Freiheit ist daher, die Wahrnehmung und die Gedanken zu differenzieren. Dann gilt es einerseits, sich mehr und mehr der Wahrnehmung hinzugeben. Das wird den kontrollierenden Anteil des Ich veranlassen, noch viel mehr Gedanken, Meinungen und Urteile zu produzieren, um das Hingeben zu verhindern. Denn damit müsste sich das Denken aufgeben. Undenkbar! Wenn sich Sinn durch die Sinne zeigt, braucht es kein Sinn-konstruierendes Denken mehr. Andererseits bedeutet es, die Gedanken auf Muster hin zu untersuchen – sie sind garantiert vorhanden – und diese Muster dann freizulassen. Wie? Durch handelndes Entlinken und neu Verlinken. Zum Beispiel durch Open Hands.

Die Sinne sind nicht diejenigen, die uns eine Realität vorgaukeln, und nur das Denken kann zur Realität durchdringen. So einen erdachten Unsinn schreibt man oft Parmenides zu, doch das hat er nicht gesagt. Nicht die Wahrnehmung und die Sinne sind das Problem, sondern die die Realität zerstückelnden Interpretationen der Informationen, welche die Sinne liefern.
Die Sinne sind aber insofern auch ein Problem, weil sie verkümmert sind. Wieviele Menschen nehmen sich nicht wahr, den Körper, die Grenzen, die Empfindungen… Das ist aber nicht ein Problem der Sinne an sich, sondern der Entfremdung des Menschen von der/seiner Natur. Sinn-Bildung ist angesagt. Renaturisierung.

Der gängige Weg ist, Wahrnehmung und Gedanken mental zu differenzieren. Doch das reicht auf Grund des eben Gesagten nicht aus. Einerseits, weil die Sinne Sinn liefern, andererseits, weil diese nicht kultiviert sind. Wenn wir Wahrnehmung und Gedanken differenzieren, ist es unumgänglich, die Wahrnehmung zu kultivieren. Integrale Bewegung fördert diese Prozesse. Wir kultivieren die Wahrnehmung und können gezielt Muster erkennen, dekonstruieren und funktionalere Muster rekonstruieren. Der Körper ist nur die offensichtlichste Ebene dieses Prozesses – «Ebene» in einem differenzierbaren Ungeteilten, wohlgemerkt. Integrale Bewegung und RIVERS schaffen neue Räume, in welchen neue Erfahrungen gemacht werden können. Erfahrungen, die den ganzen Menschen einbeziehen. Dadurch kann sich ein neues Ich – oder eine neue Qualität von Ich – konstituieren. Ein Ich, das auch Körper ist, empfindet, konstante Kokreation ist und kokreiert, aber auch verschiedenste Verständnis-Modelle beiziehen kann, um eine Erfahrung oder Wahrnehmung, statt sie gedanklich zu schubladisieren, in einem Geist-Raum (einem Raum, den die Kultivationsverben bilden) aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, ohne zu einer end-gültigen Verdichtung, einer Definition, einem Urteil, einer festgelegten Meinung kommen zu müssen. Ist das «Ich» fluid, können auch die Dinge fluid sein (ohne sie zu relativieren. «Alles ist relativ» ist schon in sich ein Widerspruch). Und so kann sich die Welt zeigen, wie sie ist. Und so können wir die Welt gestalten, ohne Fragmentierungen zu installieren.

Darum sage ich immer wieder, es ginge nicht um Bewusstsein. Es ist eine Gegenaussage gegen etwas schnell Gesagtes, in welchem 

  • Bewusstsein als «etwas» aufgefasst wird (und damit als das Gegenteil vom Unbewussten, wobei das Bewusstsein positiv und das Unbewusstsein negativ konnotiert ist, zudem ist dieses Etwas statisch),

  • das Sein zum reinen Sein ohne Handeln reduziert wird, «einfach fließen lassen» etwa, «let it be», «let life flow», ohne anzuerkennen, dass dies eine zu entwickelnde Kompetenz ist,

  • alles auf Wahrnehmung reduziert wird. «Du musst nur wahrnehmen» ist die beliebte Aussage dazu. Die richtige hieße: «Differenziere Wahrnehmung und Interpretation und kultiviere beide.»

Raum-Bewusstsein, Bewegungs-Raum

Der Raum, den die Kultivationsverben bilden, ist wesentlich. Auch die Verben sind dabei nicht «etwas», sie sind Dynamik, sind Handeln. Es ist ein interdynamischer Raum, ein fluider Raum, nicht einfach Leere. Eine große, differenzierbare, aber ungeteilte Bewegung, ein Holomovement. Eine Bewegung, in die wir als differenzierbare Ungeteilte bereits eingebunden sind, und nur das gilt es verkörpert zu realisieren. Verkörpert, mit dem ganzen Sein, Handeln und Wirken, nicht nur mental, nicht nur mit dem Ich. Ein Teil, was in diesem Holomovement entsteht, ist Bewusstsein. Ein Teil. Vor allem aber fördert dieser Raum Intelligenz, die zu umfassend und zu fluid ist, um vom Bewusstsein, vom Ich oder gedanklich umfasst zu werden. Er kann diese Intelligenz nur fördern, weil er diese Intelligenz ist. Bewegung schafft Raum. Raum ist vernetzte Gesamtbewegung.

Das ist keine These, keine Theorie, sondern schlicht und einfach erfahrbar. In jedem Atemzug. In der Bewegung in und mit der Natur. Im Bewegungs-Dialog. Im Spiel.


 

 
 
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Die höchste Integrationsstufe

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Bewegte Geschichten #4 | Skywalker. Luke Skywalker.