Yoga, Taiji, Qigong… kulturelle Aneignung?

 
 

Auf srf.ch erschien kürzlich ein Beitrag, der die Debatte um kulturelle Aneignung auch in Bezug auf Yoga thematisierte. Ich möchte nun nicht in die Debatte im Allgemeinen einsteigen. Ich möchte nicht darüber reden, dass ein Empfinden (in diesem Kontext das »Unwohlsein«) nicht als Grundlage für eine sachliche Diskussion dienen kann, sondern dass das Empfinden in einen größeren Kontext – den Kultivationsprozess – eingebunden sein muss, um als Argument dienen zu können. Dass das Unwohlsein daher oft eine Aufforderung ist, etwas genauer durchzudenken und Fakten einzubeziehen, zu differenzieren. Ich möchte nicht darauf hinweisen, dass auch der Yoga – wie wir ihn kennen – zwar von Indien kommt, aber eine starke Entwicklung durchgemacht hat, die mit europäischen Einflüssen zu tun haben. Ich möchte auch nicht darüber reden, dass Patanjali zwar den Begriff Yoga benutzt, seinen Yoga-Begriff aber ganz einfach so undifferenziert in die Diskussion einzubringen etwa so hilfreich ist, wie wenn jemand in eine Diskussion um das Geldinstitut »Bank« plötzlich Argumente für die Sitzgelegenheit »Bank« einbringt, ohne dies zu differenzieren. Ich möchte auch nicht darauf hinweisen, dass es extrem nationalistische hinduistische Gruppierungen und Aktivitäten gibt, denen man nicht in die Hände spielen sollte. Ich möchte nicht erzählen, dass es indische Yoga-Meister waren, die Heerscharen von weißen Suchenden in die Yoga-Praxis einführten und ihnen Lehraufträge erteilten, oft auch mit dem Gedanken, die »eigene Schule«, den einzig richtigen Yoga-Stil, möglichst weit zu verbreiten.

Der wichtige Taiji-Lehrer Cheng Man-ch'ing in Amerika

Ich möchte nicht argumentieren, dass »die Weißen« sich diese Methoden nicht nur im exotischen Indien holten, sondern dass zum Beispiel Cheng Man-ch'ing 1965 nach New York zog und einen entscheidenden Teil der amerikanischen Taiji-Kultur gründete, indem er hingebungsvoll Hippies unterrichtete. Ich möchte mich nicht über die amerikanische Art der »Mission« wundern, die im Artikel beschrieben wird, und ich möchte keine Hinweise darauf geben, dass gerade auch die Kultur, die die unsere war und geprägt hat, nämlich die christliche, ein synkretistisches Potpourri sondergleichen ist, also ein multikulturell Angeeignetes, und ich verweise dann auch nicht darauf, dass keine Kultur sich je isoliert entwickelt hat. Ich möchte auch nicht wieder die Zurschaustellung von Yoga in den »sozialen Netzwerken« beweinen, den #yogaporn, ein Hashtag, den ich vor langer Zeit für solche Zurschaustellungen benutzt hatte, aber seine Zeit war damals noch nicht gekommen. Vielleicht wäre er jetzt gekommen, aber jetzt bin ich nicht mehr in diesen Netzwerken. Eben deshalb, weil ich mich nicht zur Schau stelle und die Zurschaustellung auch nicht konsumieren muss.

Vielleicht wäre jetzt noch eine ganz andere Zeit gekommen, ich komme darauf zurück.

Nein, ich möchte nach dieser viel zu langen Einleitung nur kurz erzählen, dass mich das Thema schon seit gut dreißig Jahren beschäftigt. Ich habe oft von »Vereinnahmung« gesprochen und geschrieben, ja dagegen angeschrieben (Buch der Bewegung, Reise zum Unmöglichen), meine aber im Grunde das, was man heute »Aneignung« nennt. Nun. Das ist damit schon erzählt. Ich möchte erzählen, wie ich damit umgehe und was daraus entstanden ist. Ich möchte das exemplarisch an einem Beispiel mit Qigong machen.

Meine Auseinandersetzung

Als ich an einer Heilpraktikerschule medizinisches Qigong zu unterrichten begann, stand ich vor vielen großen Herausforderungen. Da war ein Institut, das Qigong und TCM traditionell verstand und vermittelte (obwohl, wie wir wissen, die »Traditionelle« Chinesische Medizin ein neuartiges Konstrukt ist), und da war ich, der durch die bereits jahrelange Auseinandersetzung mit Qigong, mit anderen Bewegungsstilen, mit Bewegung an sich, mit Methodik und Didaktik und mit interkulturellen Prozessen einen ganz anderen Ansatz hatte. Die Grundlage des Ansatzes ist die Einsicht, dass fremde Systeme nicht einfach übernommen werden können, wenn sie in die eigene Tiefe wirken sollen. Sie müssen in einem gewissen Sinne »angeeignet« werden. Diese Aneignung jedoch kann keine Kopie sein (eine gängige Praxis, inklusive chinesischem Seidenanzug oder gemeinsamem Mantra-Singen auf Sanskrit). Es kann auch nicht die »Essenz« von etwas extrahiert werden und dann neu formuliert werden (ebenfalls eine gängige Praxis). Gerne begründe ich dies alles in einem Dialog (zum Beispiel am Strand unter den Pinien in einem Infinity Game). Sie schreibend zu begründen und auszuführen würde ein ganzes Buch füllen, und eigentlich habe ich das schon gemacht (Reise zum Unmöglichen).

Aneignung nicht als Kopie und nicht als Essenzialisierung. Als was dann? Die naheliegende Lösung wäre der »interkulturelle Dialog«. Das ist eine gute Sache, doch diese Art von Dialog öffnet zwar den Menschen, indem er ihm die Relativität eigener inkulturierter Muster aufzeigt, entfaltet aber über Toleranz hinaus weniger transformierende Kraft, als man es sich wünschte.

Mein Ansatz

Was für einen Ansatz verfolgte ich also? Kurz und gut:

Suche, was die alten Meister suchten. Suche und finde es auf deine Weise und formuliere es auf deine Weise. Dann kannst du abgleichen – schauen wo sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Methode und Verständnis zeigen. Die Gemeinsamkeiten geben dir eine gewisse Bestätigung (falls du sie brauchst), die Unterschiede geben dir weitere Forscher-Impulse.

Ich habe dann in jenem besagten Qigong-Unterricht zum Beispiel die Köbi-Dynamik mit dem System der Fünf Wandlungsphasen in Beziehung gesetzt. Das schriftliche Resultat davon gibt’s hier gratis zum Download. Wir lassen zwei Systeme aufeinander los und schauen, welche Dynamik sie entwickeln. Das macht dann etwas mit uns, weil wir mittendrin sind.

Methodisch-didaktische Hilfsmittel, die nicht aus der Qigong-Kultur stammen

Wir entdecken zum Beispiel interessante Übereinstimmungen zwischen den chinesischen Meridianen und den Faszienbahnen, wie sie Anatomy Trains vorstellt. Sind also Meridiane Faszienbahnen? Das wäre eine viel zu einfache Vereinfachung. Aber vielleicht könnte in den Übereinstimmungen (und Abweichungen) ein Hinweis für die westliche Faszienforschung liegen? Vor allem aber ist die Gegenüberstellung für meine eigene Bewegungspraxis vielleicht hilfreich.

Anatomy Trains

Doch war das noch Qigong? Die Antwort darauf sagte vor allem etwas über den Antwortenden. Es lief darauf hinaus, dass man mich lobte, ich würde »das Qigong ins 21. Jahrhundert bringen«. Schön, aber ich glaube, dass dies tatsächlich nicht die Aufgabe eines Schweizers sein sollte, sondern der Chinesen. Tatsächlich hatte mein Qigong-Unterricht nicht mehr viel zu tun mit dem Qigong, das man bei der Chinesin lernte. Bei mir gab’s Köbi und Kulti, Tensegrity und Hoberman-Sphären, Vorstellungskraft und Enaktion, besagte Faszienbahnen und westliche Anatomie und ein integrales Interpretationssystem. Bei der Chinesin gab es Qi und Yi, Shen, Dantien, Meridiane und so weiter. Ich habe die entsprechenden Qualitäten erarbeitet und am Ende dann noch den chinesischen Begriff gebracht. »Seht, so nennen das die Chinesen.«

Das Resultat war aber auch, dass meine Kursteilnehmer*innen ein spezifisches Bild von Qigong hatten. Es entsprach zwar vielen, aber viele kamen auch auf die Welt, wenn sie sich plötzlich in einem chinesischen traditionellen Unterricht wiederfanden. Sie kamen zurück und berichteten, dass ihnen der Unterricht bei mir mehr bringen würde. Das brachte mich in eine schwierige Situation. Und löste Fragen aus. Brachte der Unterricht tatsächlich mehr, oder war er einfach vertrauter? Und falls ich hier Übersetzungsarbeit leistete – bin ich dafür der Richtige? Müssten diese Arbeit nicht Menschen leisten, die in beiden Kulturen zuhause sind? Auch: Können Methodik und Methode getrennt betrachtet werden? Kurz: Ist das wirklich Qigong?

Man kann zur Beantwortung dieser Frage gewisse Kriterien einbeziehen und schauen, ob sie zutreffen. Zum Beispiel: Qigong ist a) Entspannung, b) Koordination von Bewegung und Atem und c) Einbezug von Vorstellungskraft. Dann habe ich Qigong unterrichtet. Dann würde ich aber immer, wenn ich Bewegung unterrichte, Qigong unterrichten, und das ist klar nicht der Fall. Zudem würden andere Kriterien eine andere Antwort erzeugen.

Tensegrity (Buckminster Fuller)

Und so habe ich mich vom Unterrichten von Yoga, Taiji und Qigong gelöst. Nicht aber von der Bewegung. Ich hätte mich gerne schneller komplett gelöst, doch Marketing braucht entweder einen immensen Aufwand oder schnelle Etiketten. Etiketten wie YOGA. Doch ich greife vor.

Mir ging es immer um einen Prozess, der keine billigen Lösungen (Kopien, Klischees, Schablonen) zuließ. Ein Prozess. Für einen Prozess braucht es eine zentrale Zutat.

Die Frage, die alles ins Rollen bringt

Suche, was die alten Meister suchten. Hier liegt schon oft der Hase im Pfeffer und schnalzt. Am Anfang sind also Fragen. Ohne die Fragen ist da nur die Faszination am »Anderen« oder »Exotischen«, oder eine Form der Nostalgie, die in Erinnerungen badet und nirgendwo hinführt. Außer in die Nähe von Aneignung, die es zu kritisieren gilt.
Die Frage kann ganz einfach sein. Meine war und ist ungefähr die: »Wie kann ich dynamisch entspannen?« Ich suche ein Entspannen, das mich dynamisch werden lässt, das ich in der Dynamik behalte, das Dynamik initiiert und aufrecht erhält, das mich aufrichtet. Und das alles nicht nur im physischen Bereich. Meine Entdeckungen kann ich mit anderen Menschen teilen, mit Menschen, nicht nur mit Schweizern, und dabei auch entdecken, wie nicht nur andere Menschen, sondern andere Kulturen und Traditionen sich mit dieser Frage auseinandersetzen und was sie dabei finden.

Es gibt Neues unter den Himmel

Ich habe schon vor dem Beginn der gegenwärtigen Diskussion aufgehört, Yoga, Taiji und Qigong zu unterrichten, und das nicht nur wegen Corona. Doch die Etiketten sitzen in den Köpfen vieler Menschen. Ein Übergang in der Bewegungs-Werkstatt von den Etiketten zu etwas Neuem war nicht möglich, die Menschen wollten die Etiketten. Deshalb unterrichte ich heute kaum noch, denn gerade Yoga ist ein Etikett, das hilfreich ist, wenn man Menschen in genügend großer Zahl anziehen möchte.
Ich habe aus meinem eigenen Prozess heraus aufgehört, weil ich eine etwaige Vereinnahmung nicht unterstützen wollte, aber auch, weil sich durch meinen Ansatz eine neue Methode herauskristallisiert hatte. Eine zumindest für mich bessere Methode: Was aus diesem Prozess über viele, viele Jahre entstanden ist, ist RIVERS. RIVERS ist ein einfaches, komplexes System, das westlichen Errungenschaften aus Physiologie und Anatomie (z.B. besagte Faszienforschung) ebenso einbezieht wie Cognitive Science, Philosophie, Psychologie. All das mündet im Bereich der RIVERS BASES in äußerlich einfache Bewegungen, die manchmal an Yoga, Taiji oder Qigong erinnern können. So einfach, dass damit kein #yogaporn möglich ist. Und damit keine große Verbreitung in den »sozialen« Netzwerken. (Nebst Etiketten ist die andere Marketing-Zutat die Selbstdarstellung, in einem gewissen Grad die Hochstilisierung zu einem Idol oder Guru, und das mache ich auch nicht.)

Die Zeit für RIVERS wäre jetzt vielleicht gekommen im Westen. Ein System, eine Methode, die westlich ist und doch die Fragen beantworten könnte, die die westlichen Praktizierenden zu Yoga & Co. treibt. Und die sie, so denke ich, besser beantworten könnte. Nicht, weil die Methode RIVERS besser ist als Yoga, Taiji, Qigong, sondern weil sie Impulse ohne Aneignung und Vereinnahmung, ohne Schablonen und Klischees, ohne Übersetzungen und oberflächliche Faszination geben kann. Sie ist meiner Meinung nach besser geeignet. Sie liefert Interpretationshilfen für das Erlebte, die in unserer Sprache unserer Zeit kommen, nicht aus fremden Sprachen, die nicht übersetzbar sind, und nicht aus fremden Zeiten. Sie ist auf dem Stand der Zeit. Und entwickelt sich weiter. Weil es in ihrer Natur liegt, und weil sie von keinen konservativen Kräften gehemmt wird.

Was noch nicht gekommen ist, ist eine Welt, in welcher das Stille, Unauffällige nicht übertönt wird vom Lärm der Sensation. Auch vom Lärm um kulturelle Aneignung. Darum fließt RIVERS vermutlich weiter im Verborgenen, als stille Quelle.

RIVERS findest du als zentrales Element im @Home-Angebot.

 

 
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