Traumreise in die Realität
Der folgende Text stammt aus dem Buch Reise zum Unmöglichen. Er ist eines seiner Herzstücke. Ich erinnere mich gerne an jenen Morgen in Korsika, als wir thematisierten, was im Folgenden beschrieben ist. Mythos ist mir wichtig in der Bewegung. Mythos kann einen Hinweis darauf geben, worum es mir bei Bewegung geht. Doch Mythos lässt sich nicht reduzieren und damit auch nicht wirklich definieren. Ich denke aber, der Text gibt ein gutes Feeling dafür.
Enjoy!
Lange waren sie gesegelt. Von Phokaia aus, von wo sie die Perser fluchtartig vertrieben hatten. 540 Jahre vor Christus. Sie segelten nach Korsika, weil zwanzig Jahre zuvor schon eine Gruppe Phokaier nach Korsika aufgebrochen war, nachdem das Orakel in Delphi ihnen gesagt hatte, sie sollen eine Stadt auf Kyrnos bauen. Kyrnos, der griechische Name für Korsika. Sie gingen an diesem Strand an Land, etwas oberhalb, dort vielleicht, wo jetzt das verlassene Dorf mit dem Tempel stand. Sie gründeten Alalia, die heutige Stadt Aléria. Doch das Glück wollte ihnen nicht zusprechen. Sie mussten sich als Piraten durchschlagen, was verständlicherweise zu Aufruhr bei den anderen Völkern führte, die hier beheimatet waren und Handel trieben. In einer Seeschlacht wurden sie beinahe vernichtet. Wieder wurden sie Heimatlose, obwohl sie doch den Worten Apollons gefolgt waren. Eine Frage hatte sie hierher geführt. Wieso mussten sie sich wieder eine neue Heimat suchen? Sie segelten weiter, über den Horizont nach Italien.
«Welche Frage führt euch hierher?», fragte der Mann die Fremden, als sie von Bord gingen. Sie erzählten ihre Geschichte, und das Missverständnis war schnell aufgeklärt. Sie sollten nicht auf, sondern für Kyrnos einen Tempel bauen, einen Sohn des Herakles. Sie hatten das Orakel falsch verstanden. Sie gründeten ganz in der Nähe die Stadt Velia (und, an anderer Stelle, Massalia: Marseilles). In Velia sollte einige Jahre später Parmenides zur Welt kommen, dort sollte er als Iatromantis, als Heiler, der aus der Stille heilt, der aus der Stille heraus Menschen bewegt, seine Reise zur Göttin unternehmen, die ihn alles über die Realität lehrte. Die Realität der Welt, der Fülle und der Stille, die Realität des Geistes, des Seins und des Nichtseins, der Polarität und des Einen. Sein Gefährt war die Stille, die Hêsychia. Denn er war Teil einer Tradition, die aus der Stille schöpfte, aus ihr lernte und durch sie lehrte. Die Stille war die Lehrerin. Deswegen war die Beziehung von Lehrer und Schüler so eng, dass der Lehrer den Schüler oftmals adoptierte. Man gehörte zur selben Familie. Warum diese enge Beziehung? Eben darum, weil der Lehrer nichts vermitteln konnte. An einem dunklen Ort zu liegen und sich nicht zu bewegen, das ist äußerlich noch einfacher, als hier am Strand in der Sonne zu sitzen und zum Horizont zu blicken. Dazu braucht man keinen Lehrer. Es gab nichts zu vermitteln. Aber es gab viel zu schöpfen, aus der Stille – wenn man sie zulassen konnte. Und dazu brauchte man einen Begleiter. Was man schöpfte, erschöpfte sich nicht in Faktenwissen. Es war ein intimes Wissen. Es war nicht die Erleuchtung, wie wir sie uns manchmal naiv vorstellen: ein Erleuchteter kann alles, weiß alles, hat keine menschlichen Probleme mehr. Was man aus der Stille schöpfte, war Verborgenes. Es ist verborgen, weil es für den Verstand verborgen ist, weil es sich den Worten weitgehend entzieht. Darum war Parmenides’ Gedicht eine solche Leistung. Er schaffte es, dem Verborgenen Worte zu geben. Meist kommt man aus der Stille sprachlos zurück. Er kam mit einem Gedicht zurück.
Das verborgene Wissen in der Tiefe der Stille, welches der Begleiter zu bergen hilft, hat weder eine Form noch einen Inhalt. Wenn wir von einer Musik berührt werden, wo ist da der Inhalt, wo die Form? Wie geben wir dem Berührtsein Worte, dass es ein Außenstehender versteht? So etwa ergeht es einem, wenn man aus der Stille zurückkehrt, von der man berührt, ja durchtränkt wurde, in der man starb und wiedergeboren wurde. Und doch gibt es viel zu differenzieren. Ohne Begleitung ist die Tendenz da, dass wir auf unserer Reise durch die Stille in prärationale Gefilde abdriften. Die haben auch keine Worte und sind auch nicht rational zu verstehen. Darum verwechselt man sie gerne mit den Bereichen der Stille, die unser alltägliches Bewusstsein übersteigen. Darum braucht eine solche Initiation eine Vorbereitung, eine Durchführung und eine Nachbereitung. Ein Begleiter bereitet vor und nach. Er lehrt den Anfang, lenkt den Fortgang und hilft zur Vollendung. Er hat auch erlebt, wie man ohne Sprache, aber voller Fülle zurückkehrt. Er hat das differenziert und integriert und kann daher mit dieser Sprachlosigkeit umgehen. Es ist eine intime Beziehung da, die auch ohne Sprache, ohne äußere Formen und Inhalte, auskommt. Der Begleiter begegnet dem Reisenden mit seinem Menschsein, und daraus entsteht Sinn und Heilung.
Ich kann davon durch meine Worte nur eine Ahnung geben. Die Integraldynamik und die integrale Bewegung arbeiten genauso und sorgen dafür, dass wir nicht in Prärationales abdriften. Natürlich differenzieren wir Bewegungen, wir achten auf die Funktionalität der Gelenke, entfalten die Spiralkraft und so weiter, aber das ist vor allem Wahrnehmungsschulung und zugleich ein Freisetzen unseres natürlichen Potenzials. Das unterscheidet integrale Bewegung von einer mechanischen Physiotherapie. Der eigentliche Punkt ist, und der eigentliche Grund, warum viele Menschen über Jahre und Jahrzehnte diesen Weg gehen, dass wir intimes Wissen schöpfen und daraus ganz neue Wirkkräfte und Qualitäten entstehen, die unser Leben formen. Deshalb tun wir hier das, was wir hier tun. Die Quelle des intimen Wissens finden wir da, wo Stille und Bewegung, Bewegung und Stille nicht zwei sind. Der Weg zu diesem Ort, der kein Ort ist, ist die Schulung unserer Wahrnehmung durch den Kultivationsprozess. Bezeugen, empfinden. Differenzieren, integrieren. Subtilisieren, verwesentlichen. Der «Stoff», das Material, mit dem wir arbeiten, ist das, was jederzeit da ist. Der Körper. Der Atem. Die Bewegung. Körperliche Bewegung, Gedankenbewegung. Die Reaktion. Körperliche Reaktionsmuster, Interpretationsmuster, Denkmuster, Glaubensmuster. Damit kultivieren wir uns selbst. Und werden so zum Gefäß für das, was wir durch den Kultivationsprozess aus dem Verborgenen schöpfen. Im Verborgenen sind wir geborgen.
Wieder finden wir Dynamik-Paare, die eine einzige Dynamik sind. Präsent Verborgenes: Wir schöpfen Verborgenes, das bereits hier ist. Es ist hier, doch wir müssen es schöpfen. Natürliche Kultur: Wir kultivieren die Natur. Unsere Natur. Dieser Kultivationsprozess ergibt sich von selbst, er ist ganz natürlich und vollzieht sich in Dynamik-Paaren. Zentrieren wächst mit dem Bezeugen. Empfinden entfaltet sich mit dem Öffnen. Ausdehnen vollstreckt sich durch das Differenzieren. Begegnen vollzieht sich im Subtilisieren. Integrieren vertieft sich mit dem Verwesentlichen. Zentrieren führt zu öffnen, dieses wird zu ausdehnen, dieses führt ins Begegnen, begegnen führt ins Integrieren. Bezeugen ruft nach Empfinden. Damit wird bereits differenziert und integriert. Integrieren führt zu subtilisieren und verwesentlichen.
Es ist alles ganz natürlich.
Körper und Bewusstsein, Natur und Kultur, sind eine selbstverstärkende Dynamik.
Das alles machen wir an dem Strand, an dem Parmenides’ Vorfahren gestrandet sind, bevor sie endgültig eine neue Heimat gefunden hatten. «Welche Frage führt euch hierher?», hatte der Mann die Fremden gefragt und sie damit nach Hause gebracht.
Ich hatte mich schon immer stark mit unseren kulturellen Traditionen verbunden gefühlt. Ich bin hier verortet, hier verwurzelt, auch wenn die Integraldynamik an sich nicht östlich oder westlich ist. Auch wenn hier ganz natürlich östliche Methoden einfließen, Yoga, Qigong, Taiji, dann hat sich meine Arbeit eigentlich von Beginn an von einem Strom gespiesen, der nicht aus dem Osten hierher strömt, sondern von hier. Aus diesem Hier hier. Aus diesem Hier, auf dem unsere Kultur gründet, und auf dem wir jetzt stehen. Dieser Strom war einmal offensichtlich, doch er strömte in den Untergrund, als man begann, das Intime zu verdrängen und durch das Integre zu ersetzen, das Unergründliche, das Weise und das Verborgene durch das Gute, Wahre und Schöne, das Weibliche durch das Männliche, das Mystische durch das Rationale, die Erfahrung durch das Dogma oder einen falsch verstandenen Glauben. Das Wort, das Fleisch geworden war, durch noch viel mehr Worte. Taten durch Ideen, Mythen durch scheinbar faktische Geschichtsschreibung. Und aus Parmenides wurde der Gründer westlicher Logik gemacht. Obwohl seine Logik zur Einheits-Erfahrung führte. Seltsam, was alles passieren kann.
Heute ist er verborgene Quelle, dieser Strom, verborgen offensichtlich, Quelle in uns, in der Kultur, in unserer Natur, in dieser Natur. Wir haben alles, was wir brauchen, um ein Gleichgewicht zwischen diesen Qualitäten herzustellen. Und die Bedingungen sind günstig, überall wird erkannt und anerkannt, dass der Mensch nicht von der Logik allein lebt.
Wir müssen dieses Gleichgewicht nicht erschaffen, es ist bereits da, so wie wir zwei Hirnhälften haben, die miteinander in Dialog sind. Wir müssen es nur zulassen, wahrnehmen, kultivieren, verkörpern. Mythos und Geschichte vereinen sich hier. Die Mythen und Geschichten der Menschheit, unsere eigenen Mythen und ganz einzigartigen Geschichten. Ein Mythos ist die Aufforderung, uns zu erinnern, weil wir «dabei waren». Mythen sind präsent, also lohnt es sich, sie bewusst zu machen. Die faktische Geschichte ist eine Aufforderung, uns zu erinnern, weil wir nicht dabei waren. Es ist wichtig, aus der Geschichte zu lernen, und es ist wichtig, am Mythos zu lernen. Ich liebe die Geschichte und Geschichten, die dieser Ort birgt. Und es entstehen neue Geschichten hier, wir schreiben in unserem Buch des Lebens ein neues Kapitel, werden von einer Frage zu neuen Antworten bewegt, zu neuen Visionen des Lebens. Vielleicht ist dieser Ort für uns ein Übergangsort, Übergang von einem Kapitel ins Nächste, oder von einer Ebene des Seins zu einer neuen Ebene. Vielleicht geht es nur darum, die Frage klarer zu verstehen, die uns hierher gebracht hat. Dann segeln wir weiter, auf den Schiffen, die wir Leben nennen, am Steuer die Geweihten in uns, unserer eigentlichen Bestimmung entgegen. Anderen wird dieser Ort Heimat, sie kommen ganz einfach darum immer wieder, weil der Ort sie zurückruft. Und allen, den Weiterreisenden, den Beheimateten, bietet er sich an, in ihm zu verweilen, seinen Geschichten und seiner Geschichte zu lauschen, ihre Geschichten zu teilen, und, wenn Geschichten zu Schichten werden, neue Schichten des Seins zu entdecken und zu kultivieren. So sinken wir, wenn wir uns auf diesen Ort einlassen, durch Schichten und Geschichten in eine Stille, die bewegt. Und wenn wir uns bewegen lassen, dann aus einer Stille, die tiefer nicht gründen könnte, die alles umfasst, und in der wir aufgehoben sind und aufgehoben werden. Denn sie ist nicht nur individuell, sie ist auch kulturell.
Vielleicht hatten die Menschen aus Phokaia das Orakel nicht ganz falsch verstanden. Vielleicht sollten sie tatsächlich zuerst nach Kyrnos kommen. In einer gewissen Weise haben sie ihn tatsächlich gebaut, den Tempel. Jedenfalls ist dieser Platz für mich ein Tempel. Ein heiliger Ort, der mir Heimat und Wurzel ist. Ein Ort, an dem 2500 Jahre zusammenfallen ins Jetzt. Er ist der Ursprungsort der integralen Bewegung und der Integraldynamik.
Ich bin dankbar.
Verbinden wir uns mit dem Lied des Windes. Mit dem Licht, das zu uns getragen wird, durch das Element Wasser, das wir auch sind. Mit den Wurzeln, mit dem Jetzt und dem Hier. Lass dich tragen. Dann, manchmal, hin und wieder, meist unscheinbar, geschieht hier etwas Unerklärliches, Intimes, das auch noch verborgen bleibt, wenn wir es in Worte zu fassen und zu erklären versuchen. Eine echte Initiation. Vielleicht ist sie nicht spektakulär, jedenfalls von außen betrachtet nicht. Es muss nicht ein Schiff wie ein Elementarteilchen am einen Ort verschwinden und zeitgleich an einem anderen erscheinen. Es wird etwas in uns berührt, angestoßen, kommt in Bewegung, bewegt sich in die Stille, in die Fülle, in das tiefe Leben. Es senkt sich in unser Herz, unseren ureigenen Tempel, wir nehmen es nach Hause, das Geheimnis, das nicht deshalb ein Geheimnis ist, weil es ein Geheimes ist, sondern ein Gemeinsames. Ein Gemeinsames, das in der Berührung entstand, als wir berührt wurden und berührten, und wir bringen es hinein in ein neues Leben. Ein neues Leben, das vielleicht von außen betrachtet nicht ein anderes ist.
Und doch ist es neu, weil wir anders sind.
Neu berührt, neu verwurzelt, neu vernetzt, neu bewegt.
Wo ist dein Tempel?
REISE ZUM UNMÖGLICHEN
EINE CHRONIK DER BEWEGUNG
Martin Schmid | Sachbuch | 488 Seiten | Print und eBook
Mehr als 30 Jahre intensiver Auseinandersetzung mit Bewegung umfasst dieses Buch, dargestellt an den so zentralen Korsika-Kursen.
Martin Schmid entwirft ein Bild von Bewegung, das den ganzen Menschen einbezieht und alle westlichen und auch östlichen Herangehensweisen nicht nur integriert, sondern transzendiert.
«Soviel bewegte Weisheit in einem Buch. Es ist gespickt mit einer liebevollen poetischen Sprache, die ins Innere des Menschen dringt.» –Rezension auf Amazon