Vergeistigt? Entkörpert.

 
 

Ist es nicht eine Tatsache? Den meisten geht doch die Diskussion um kulturelle Aneignung auf den Keks, bevor sie angefangen hat. Nicht, weil sie nicht wichtig wäre, sondern weil sie nicht richtig verläuft. Es sind ganz viele faule Eier drin. Die können gerne ein andermal Gegenstand der Analyse sein, aber ich glaube, das machen andere besser als ich. Ziel dieser Mini-Serie (Teil 1 hier) ist, die Vielschichtigkeit der gegenwärtigen Diskussion um kulturelle Aneignung im Bewegungsbereich aufzuzeigen, statt an der Oberfläche (und «Unwohlsein« ist ein schönes Wort für diese Oberfläche) herumzudümpeln. Ich möchte sie anerkennen und kritisieren, und ich möchte Potenziale aufzeigen.



Handwerk & Weg

Wenn man ein  Handwerk beherrscht, weiß der Körper in Koordination mit der Kognition (hier: Wahrnehmung, Analyse, Interpretation, Problemlösung, Umsetzung) was zu tun ist. Der ganze Prozess läuft internalisiert und zu einem gewissen Grad, aus Mangel an einem besseren Wort, automatisiert ab. Kurz: der Körper weiß. Körperwissen. Enaktion.

»Der Westen ist entkörpert, ein anderes Wort dafür wäre vergeistigT«

Wenn Bewegung ein Weg ist, gilt genau dasselbe. Ich muss die Bewegungen in mir finden, sie müssen als Bewegungspotenzial in meinem Körper angelegt sein. Diese Potenziale werden durch eine Methode geweckt und kultiviert. Ob Weg oder Handwerk, es findet eine Verkörperung statt. Ein einst nicht Körper-Eigenes wird einverleibt. Das Nicht-Körpereigene kann Schreinern sein oder Yoga, Goldschmieden oder Aikido. Der Schlüssel zum Erfolg ist dieses Einverleiben. Daraus kann dann auch Innovation geschehen. Innovation braucht den Körper, braucht Handwerk. Diesen Prozess unterstützt RIVERS mit der Dreiheit »imitieren – integrieren – innovieren«. Diese Dreiheit verhindert auch, dass man auf die Schnelle eine Wischiwaschi-Innovation vollzieht. Weil man muss ja was Besonderes anbieten heute, eine Nische finden.



Einverleiben

Das Einverleiben ist eine Aneignung. Etwas Fremdes wird zum Eigenen. Nicht zum Ego, das ist zwar oft auch der Fall, sondern zum eigenen Wesen. Versteht man unter Aneignung die oberflächliche postmoderne ästhetische Aneignung, die Ego-Aneignung also, mit der man sich schmückt, die man trägt und zur Schau stellt, dann gilt es diese zu kritisieren. Versteht man darunter eine Einbettung in das eigene Wesen, wird es etwas komplexer. Es stellt sich die Frage, ob etwas Fremdes wirklich wesens-eigen gemacht werden kann, und wenn ja, was dabei geschieht. Welcher innere alchemistische Prozess dabei abläuft. Ob dabei zum Beispiel eine Angleichung geschieht. Ich möchte dieses große, große Thema der inneren Assimilisationsprozesse hier aber nicht weiter verfolgen und nicht eine Lösung präsentieren. Ein zu großes Thema für einen Log-Eintrag. Aber ich möchte ein paar Fragen stellen und Impulse geben.

»So sind wir: Intellektuell, nicht imaginativ«

Die erste Frage schließt gleich an das eben Gesagte an: Wenn es sich bei der Aneignung um einen tiefen inneren Prozess handelt, wer soll dann beurteilen, ob dies legitim ist oder nicht? Gehören meine tiefen inneren Prozesse nicht einfach mir selbst? Erst die Veräußerung, die Zurschaustellung, die Handlung kann kritisiert werden.

Zweitens, ist es nicht eine Form der Aneignung, wenn ich die Aneignung eines kulturfremden Aspekts kritisiere? Müsste ich nicht zuerst bei der angeeigneten Kultur nachfragen? Müsste die Kritik nicht von der aneignenden, sondern von der angeeigneten Kultur kommen? Ja, sind wir sonst nicht schon wieder am Bevormunden? Wortwörtlich? Denn vielleicht empfindet die andere Kultur die Aneignung gar nicht als unangebracht.

Die Kultivationsdynamik. Empfinden ist darin einer von sechs Aspekten einer dynamischen Ganzheit.

Der Westen ist entkörpert, ein anderes Wort dafür wäre vergeistigt. So sind wir: Vergeistigt, nicht verkörpert. Intellektuell, nicht imaginativ. (Dazu: Das Buch der Bewegung, Kapitel Tradition.) Die Diskussion um Aneignung ist im Kern sicher richtig und wichtig, doch wie sie hier bei uns (in der Schweiz) geführt wird, ist sie vielfach wieder Ausdruck einer Entkörperung. Obwohl dann und gerade weil das »Unwohlsein«, ein (körperliches) Empfinden, als Argument gebracht wird. Es wird also körperlich argumentiert, und dieses Wischiwaschi-Argument zeigt schön, wie undifferenziert das Verhältnis der heutigen Schweizer und Schweizerinnen und einem großen Rest der westlich beeinflussten Welt zum Körper ist. Bevor Herr und Frau Schweizer noch mehr ausgliedern, sollten sie mehr inkorporieren. Wortwörtlich. Und das Empfinden in einen größeren Prozess eingliedern. Mein Vorschlag dafür ist die Kultivationsdynamik. Die Kultivationsdynamik kultivieren wir im Rahmen integraler Bewegung und RIVERS. Es geht nicht abstrakt, sondern nur verkörpert. Denn sie ist ein Handwerk.


Impulse

Hier ein paar Impulse, die das Thema beleuchten. Ich habe bereits erwähnt, dass ich schon lange über besagten Prozess schreibe. Hier eine Auswahl aus dem Buch der Bewegung, Kapitel Tradition:

"Gibt es Qi auch außerhalb von China? Gibt es Prana auch außerhalb von Indien? Außerhalb von Systemen? Wie kann ich diese Qualitäten mit meinem ganz eigenen System, dem Nerven-System, erfahren? Braucht es dazu fremde Begriffe? Nehmen wir nur wahr, wofür wir Worte haben? Konzepte? Hier liegt das Potenzial, und hier liegt die Falle."


"Der Weg, der nicht dem Reduktionismus verfällt, ist also, die Qualitäten einer Tradition ernst zu nehmen und sie nicht primär als kulturelles Erzeugnis, sondern als menschliches Erfahrungspotenzial zu betrachten. Wir stoßen damit auf eine grundlegendere Ebene vor, welche die Kultur nicht negiert, sondern sie erschafft. Diese grundlegendere Ebene ist eine Ebene, aus der die Kultur entsteht. Sie ist an sich formlos, hat aber formbildende Kraft. Wir beschreiben sie daher auch nicht durch Methoden (Formen, Nomen), sondern durch formbildende Kräfte (Verben). Sie ist kein «Etwas», sondern eine Dynamik. Wir werden also einer Kunst oder einem Weg, die oder der in vergangener Zeit in einer anderen Kultur entstanden ist, viel gerechter, wenn wir uns mit der kulturbildenden Dynamik befassen, als ausschließlich mit der Kultur selbst, und diese irgendwie in unser westliches Weltbild zu integrieren versuchen. Diese formlose Dynamik ist zudem nicht nur kulturbildend, sondern auch menschenbildend. Und es ist die Dynamik, die uns in Bewegung versetzt. Es ist nicht nötig, einer Tradition abzuschwören, wenn wir unsere Bewegung innerhalb einer Tradition entwickeln. Statt die Tradition zu negieren, fügen wir uns der Tradition hinzu, und halten sie damit nicht nur lebendig, sondern entwickeln sie weiter."


"Fremde Begriffe setzen eine Interpretationskompetenz voraus oder fördern sie, die diejenigen, welchen diese Begriffe nicht fremd sind, bereits mitbringen. Für uns Fremde werden sie zu einem Deutungssystem, dem wir die Deutung abringen müssen. Das ist an sich eine gute Sache und das Potenzial in jeder Begegnung mit dem Fremden, in welcher Form auch immer dieses Fremde sich zeigt. Jedes Übungssystem wie Yoga, Qigong oder Aikido (und ihre jeweilige Vielfalt von Stilen) ist immer auch ein Deutungssystem. Sie sind eine Art der Fragestellung, die ihre jeweilige Art der Antwort vorspuren. In dieser Situation zeigen sich verschiedene Potenziale: Entweder wird das Fremde als Fremdes erkannt und anerkannt. Das Potenzial darin ist, dass keine Assimilation und oberflächliche Inkulturierung angestrebt wird, sondern eine Bereicherung durch nicht vereinbare Pole, zwischen denen eine Dynamik entsteht."


"Es wichtig, nicht Methoden aus einem Kontext zu reißen und zu funktionalisieren. Also nicht: Hier ein bisschen Vipassana-Meditation, hier ein wenig christliche Hingabe–oder doch lieber hinduistische?–, dann noch etwas Taiji und Yoga und etwas Psychotherapie. Der Weg des inneren Meisters entfaltet sich von innen heraus und ist kein postkoloniales Vereinnahmungspuzzle. Es ist nichts falsch an diesen und anderen Methoden, doch es ist falsch, sie aus dem Kontext zu reißen und zu funktionalisieren. Es ist nicht unbedingt ethisch falsch, sondern vom Menschsein her. Der Weg des inneren Meisters entfaltet sich von innen nach außen und ist Geschenk an die Welt, er bedient sich der Welt nicht. Der Weg des Meisters ist kein ich-zentrierter Prozess, sondern ein weltzentrierter. Um zu dienen können wir uns nicht bedienen. Wenn innerlich etwas reif ist und von außen die entsprechende Praxis an uns tritt, ist das ein Werkzeug, das sich uns anbietet. Das ist jedoch ein ganz anderer Vorgang, als sich zu nehmen, was man gerade will, und was gerade en vogue ist. Was aus innerer Reife entsteht, ist ein Baum mit vielen verschiedenen Früchten mit einem gemeinsamen Stamm und gemeinsamen Wurzeln. Was entsteht, wenn ich mir nehme, was mir gerade passt, ist ein Patchwork, ein Flickwerk ohne Zentrum und inneren Sinn. Anders gesagt: Es ist perfekt, wenn eine Praxis mich findet, und sei sie noch so östlich. Es ist jedoch nicht förderlich, wenn ich sie mir nehme. Weder für mich, der damit eher wieder die Ichzentriertheit fördert, noch für die Praxis, die ich damit funktionalisiere."


"Wenn im Folgenden von Ost und West gesprochen wird, ist das natürlich eine der gröbsten Verallgemeinerungen, die man machen kann. Ost und West sind in keiner Art und Weise schwarz und weiß. Sie sind und waren nie getrennt. Schon in frühester Zeit fand ein reger Austausch zwischen Regionen und Kulturen statt, welche für alle Beteiligten prägend waren. Auch ist es heute nicht so, dass alle Menschen im Osten spirituelle Körper-Wesen und alle Westler Materialisten wären. Das alles liegt, davon gehe ich aus, offensichtlich auf der Hand. Was mit Ost und West gemeint ist, ist die schlichte Tatsache, dass tendenziell im Osten in den letzten 2000 Jahren der Körper nicht verneint wurde, wie es im christlich geprägten Westen geschah. Im Osten haben sich Praktiken entwickelt, die den Menschen kultivieren und dabei den Körper einbeziehen. In den Kampfkünsten, im Qigong, tendenziell in tantrischen Strömungen des Yoga und auch im Zen mit seinen vielen Ausgestaltungen in verschiedene Künste geschieht dies integral, also den Körper gleichwertig einbeziehend. Andere Praktiken instrumentalisieren den Körper vielleicht eher wieder, um auf eine Befreiung aus dem Materiellen und dem Kreislauf der Wiedergeburt hinzuarbeiten, wie etwa gewisse Interpretationen des Yoga des Patanjali. Im Westen hingegen wurde eine Abspaltung des Mythos zu Gunsten des Logos praktiziert, welcher seine Alleinherrschaft in Form von Rationalismus und schließlich Reduktionismus und Materialismus und im Ideal von grenzenloser Ausdehnung und Innovation fand. Das Christentum, eigentlich als körperliche Lebens-Praxis angelegt, schließlich wurde im Christus-Ereignis das Wort Fleisch, verlor sich dabei weitgehend in der Strukturierung und Umstrukturierung von Ideen und Institutionen."


„Ost, der Körper wird wahrgenommen. West, er wird trainiert. Ost, er ist erlebte, erfahrene, empfundene Realität. West, er ist eine Idee (da nicht erkannt, nur gewusst), oder das Gefährt, um unsere Ideen umher zu tragen, oder Werkzeug zur Leistungssteigerung oder Objekt zur Selbst-Erhöhung. Ost, er ist integriert in ein Ganzes, ist Teil dieses organischen Ganzen. West, er ist isoliert, ein Fremd-Körper."


"Philosophien und metaphysische Systeme aus anderen Kulturen zu übernehmen, ist nicht der Weg, denn er hilft uns nicht. Die physische Praxis ohne den Kontext zu übernehmen, ist auch nicht der Weg, denn dann machen wir das, was der Westen so gerne tut: vereinnahmen, reduzieren und funktionalisieren. Wie bewegt sich der Mensch in der westlichen oder vom Westen geprägten Welt? Was ist die Aufgabe eines Bewegungssystems für den Menschen von heute, wenn es über die reine Physiologie hinaus wirken soll? Was ist integrale Bewegung? Übernahmen von Systemen sind aus verschiedensten Gründen nicht die Lösung. Wenn wir also weder die physische Praxis noch das philosophische Weltbild einer Kultur übernehmen–was bleibt? Die Frage ist: Was machen diese Systeme, was der Westen nicht macht? Und die Antwort ist ganz einfach. So einfach, dass sie zu einfach erscheint. Aber sie ist nicht zu einfach. Es ist die Wahrnehmungs-Schulung. Oder, etwas weniger pädagogisch ausgedrückt: die Kultivation der Wahrnehmung. Die körperliche Kognition und ihre Kultivation.“


"Die Wahrnehmungs-Schulung wird verhindert, wenn wir Weltbilder, metaphysische und philosophische Inhalte oder fremde Begriffe übernehmen. Es sei denn natürlich, und das ist wichtig, wir nehmen sie als Impulse um uns zu fragen, was das genau für uns, dich und mich, jeden einzelnen, das Individuum des Westens in dieser Zeit, bedeutet, und – und das ist ebenso wichtig – uns diese Frage zu einer unmittelbaren Erfahrung hin bewegt. Ein Kurzschluss ist, dass besagte Wahrnehmungsschulung nur innerhalb des östlichen Bewegungssystems möglich sei. Obwohl natürlich die Art der Fragestellung, aus welcher eine Bewegungsmethode sich entwickelt, entscheidenden Einfluss auf die Bewegung an sich hat, bedeutet dies nicht, dass die Wahrnehmung nur in diesem Rahmen möglich ist. Wenn «zentrieren» im Qigong primär Verwurzelung, Sinken und Entspannung bedeutet, heißt das einerseits nicht, dass wir «zentrieren» nicht auch in anderen Bewegungen erforschen können. Andererseits heißt es nicht, dass «zentrieren» nur die eben genannten Qualitäten umfasst. Zu zentrieren kann zum Beispiel auch heißen, die Rumpfmuskulatur (den «Core») zu stärken. In entsprechenden Anleitungen dazu kann die Empfindungsfähigkeit und das Subtilisieren genau so kultiviert werden wie in einer Qigong-Bewegung, auch wenn wir dabei Anderes empfinden und subtilisieren.

Weltbilder, fremde Götter, Worthülsen wie Achtsamkeit oder Konzepte wie Qi können die direkte Wahrnehmung verhindern, weil sich der Verstand-Geist zwischen die Wahrnehmung und den Körper stellt. Der Verstand hat seinen Platz nach der Erfahrung. Zuerst muss etwas entstehen, dann kann man es verstehen wollen. Der Weg ist also, dass wir etwas wahrnehmen. Danach können wir allenfalls schauen, wie andere Systeme und Weltbilder diese Wahrnehmung interpretieren und integrieren, um Impulse zur eigenen Interpretation und Integration zu erhalten."


"Ein Grund, die Prinzipien integraler Bewegung deutlich herauszuarbeiten, war für mich, dass ich in meinem eigenen Unterricht als Lehrer lernte, was für meine Studenten hilfreich ist und was nicht. So gibt es zum Beispiel das Konzept des Qi, Ki oder Prana. Dies sind kulturell geprägte Konzepte für etwas, das wir empfinden. Statt nun diese Begriffe einzuführen, ist es förderlicher, das körperliche, konkrete Empfinden dafür zu schulen, was die jeweilige (fremde) Kultur mit diesem Begriff umschreibt. Dadurch kommen wir zu einer direkten Erfahrung, statt uns plötzlich in der Situation zu finden, über Begriffe aus einer anderen Kultur diskutieren zu müssen. Innerlich oder äußerlich.“


"Wenn wir unser konkretes Erleben in Beziehung setzen zu Traditionen, können wir es vielleicht einbetten in ein größeres Verständnis. Vielleicht entsteht aber auch einfach Verwirrung und Entfremdung, und diese tarnen sich vielleicht sogar als Schein-Sicherheit. Denn die Traditionen, in welche wir einbetten, sind meist fremde Traditionen, nicht diejenigen, die wir vor unserer Haustür, ja im Generationen-Fundament unseres eigenen Hauses finden. Jedenfalls uns Westlern geht es so, denn ein noch nicht verstandenes Christentum hat zweitausend Jahre lang keine Tradition entwickelt, die Atem, Körper und Bewegung integrieren würde.“


"Das eigentliche Wachstumspotenzial entsteht nicht da, wo wir Modelle vergleichen und sie sich decken, sondern da, wo sie sich reiben. Hier beginnt die Entdeckungs-Reise ins eigene Selbst."

 

 

Das Buch der Bewegung

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Yoga, Taiji, Qigong… kulturelle Aneignung?