Das, was keinen Namen trägt

 
 

Ich möchte von einer Erfahrung berichten, ohne daraus etwas zu bauen. Geht das?

Machen wir die Probe aufs Exempel.

Korsika ist Korsika. Klar. Korsika ist eine Insel. Sie wird von Korsinnen und Korsen bewohnt, einem Volk, das, sagt man, diese und jene Eigenschaften – oder Eigenheiten – besitzt. Ich kann das weder bestätigen noch verneinen, da ich nur Begegnungen mit Menschen hatte, nicht mit «dem Volk». 

Natürlich ist «Volk» eine Kategorisierung, eine Abstraktion. Dasselbe ist aber auch der Fall mit «Korsika». 

Macht man auf Korsika Ferien, kommt man in Kontakt mit Korsika. Mit dem Korsika, wie es jetzt gerade ist, ausgerichtet auf Touristen. Ich kann etwas tiefer dringen, mich einlesen über die Geschichte, verstehen, warum die Touristenströme an historische Ort strömen, um dort ein Eis zu essen und ein korsisches Messer zu kaufen. Ich kann auch mit Korsinnen und Korsen in Kontakt kommen, die nicht im Tourismus-Dienstleistungssektor tätig sind. Vielleicht bin ich dann nicht mehr ein Tourist, sondern ein Reisender. (Auch das sind Kategorisierungen). 

Widme ich mich auf Korsika integraler Bewegung, kann etwas ganz Anderes geschehen. Durch die Praxis werden andere Qualitäten zugänglich. So ist es mir letzthin wieder geschehen.

Ich begegne dem, was keinen Namen trägt. Was schon hier war, bevor die ersten Menschen vor ca. 8000 Jahren hierher kamen. Ich sinke in eine Tiefe des Gegenwärtigen, die viel tiefer reicht als diese 8000 Jahre.

Und es gibt keine Literatur dazu, nirgendwo kann ich mich einlesen, niemand kann mir davon erzählen. Es geschieht durch eine unmittelbare und unvermittelte Erfahrung. (Vielleicht bin ich dann nicht mehr ein Reisender, sondern ein Pilger. Wieder: eine Kategorisierung.)

Das war’s auch schon mit der Erfahrung. «Ich begegne dem, was keinen Namen trägt» ist ein Bericht eines Ereignisses. Jetzt möchtest du wissen, wie ich mich dabei gefühlt habe? Ich kann es dir nicht sagen. Lass es mich so sagen:

Eigentlich ist die Erzählung der Erfahrung bereits eine Interpretation. Denn sie war eher eine Empfindung, oder zeigte sich in einem Empfinden. Aber dieses ist noch viel schwerer zu beschreiben. Es war unspektakulär unbeschreiblich. Diesen Prozess könnten wir «spirituell» nennen (wohlgesinnt, es gäbe natürlich auch ganz andere Worte dafür), und vielleicht deshalb hat das, was keinen Namen trägt und mir begegnet, nicht nur eine spirituelle Qualität, sondern auch die eines «Spirits». Ich weiß nicht ob wesenhaft, aber ich würde sagen: pulsierend. Summend. Singend. Ruhend. Seiend. Gestaltend. Eine Kraft. Eine Naturkraft, eine Naturkraft mit einer spezifischen Qualität. 

«Mir begegnet» ist auch doppelt falsch ausgedrückt, das klingt für eine solche Kraft zu entgegenkommend, Natur ist nicht per se wohlwollend, oder sag mal dem Käfer im Schnabel des Vogels: «Die Natur ist per se wohlwollend.» Und damit das auch einmal gesagt ist: Das Mittelmeer hier ist wunderschön. Es ist ein lebendiger Organismus. Der Ozean ist das zentrale Organ unseres Systems. Er ist immer in Bewegung, immer pulsierend, fließend, sich verändernd. Er vereinigt Bewegung und Stille. Er ist das Herz des Planeten, von allem Leben, der Menschheit, von dir und mir. Und es ertrinken täglich Menschen auf der Flucht darin. Die Natur ist eine ungeheure Kraft. Natur-Kraft ist auch Natur-Gewalt. Ich kann mich im Meer tragen lassen, und ich könnte darin sterben, es bräuchte nicht viel. Ganz nebenbei könnte es mich mal eben verschlucken. Darum ist «begegnen» das falsche Wort. Und doch ist da – eine Auflösung. In welcher etwas geschieht.

Denn es bin nicht ich, «mir» begegnet da gar nichts, ja das Entwerden des Ich ist wohl die Voraussetzung für die Präsenz dieses Unbeschreiblichen, welches vielleicht kein Begegnen ist, sondern ein Auflösen von Grenzen, oder anders: von Konzepten, Kategorien, unbewussten Vorstellungen, Annahmen, Konditionierungen von meiner Seite, allesamt Isolationsmechanismen und so weiter und und und, so wie sich dieser Text hier auch fortwährend selbst dekonstruiert, und wir sind noch nicht fertig damit. Dieses Entwerden nennen wir im Rahmen integraler Bewegung Infinition (Integraldynamik S.59-60, 510-11, 556-58, 626-29; Buch der Bewegung S.272-73, Reise zum Unmöglichen S.278-79, Rhythmen integraler Bewegung S. 50). Damit ist auch angedeutet, dass Entwerden nicht «nichts werden» ist. Denn der Infinitiv ist das Unbegrenzte, und das Unbegrenzte ist, ist ja logisch, letztlich alles, wobei «letztlich» hier das völlig falsche Wort ist. Aber natürlich ist das «Unbegrenzte» so gesagt ein reines Konzept. Und natürlich geht es in keiner Weise um eine Identifikation mit dem Unbegrenzten oder auch nur dem Größeren, das wäre eine egoische Inflation. Nicht Inflation, Infinition heißt der Prozess. Nicht die Dekonstruktion, sondern die Integration ist der Hauptfaktor in diesem Prozess. Mit der Definition kommt die Isolation. Mit der Infinition kommt die Integration. Mit der Integration löst sich die Identifikation. Es ist die Identifikation mit der Identität, die das unendliche Spiel ausbremst. Und natürlich ist diese Identifikation genau das, was das unendliche Spiel lösen kann. Infinition ist nicht das Auflösen der Identität, sondern das Lösen der Identifikation. 

Ach. Immer so viel zu differenzieren. Wir kommen nirgends hin. Aber das ist gut. Wir müssen nirgends hin. 

In dieser Infinition stirbt tatsächlich etwas (die Identifikation), gleichzeitig wird etwas geboren, es ist ein einziger Vorgang. Was es ist, kann ich dir wieder nicht sagen, seine Wirkung zeigt sich in mehr Stabilität, Offenheit, Klarheit, Ruhe. Und es hat Bestand. Es ist wohl kein «Etwas», sondern einfach eine gefühlte Stufe der Integration.

Die Erfahrung ist ein Zustand und deshalb flüchtig. Ein Zustand kommt und geht. Wir könnten es übrigens auch so sehen, und in einem gewissen Sinn scheint mir dies realer: Zustände sind wie Räume. Sie sind. Wer kommt und geht, sind wir. Darum «haben wir Zugang». Wir müssen nur fähig sein, die Zugänge zu finden. Integrale Bewegung ist ein Zugangs-Training. 

So oder so gesehen, ein Zustand wird vergehen, so wie eine Wolke früher oder später auf die eine oder andere Weise verschwindet. Zustände prägen unsere neurologische Gestalt. Das einfachste Beispiel ist, dass Meditation tatsächlich das Gehirn formt (Neuroplastizität). Aber auch unser Körper wird durch Zustände geformt (phenotypische Plastizität). Freude hat eine andere körperliche Gestalt als Trauer. Kurzzeitige Zustände werden den Körper nicht umformen, lang anhaltende jedoch schon. Man denke etwa an eine Depression. 

Die Länge ist ein gestaltender Faktor, ein anderer ist, so bin ich überzeugt, die Tiefe. Ein tiefer Zustand, selbst wenn er nicht lange anhält, kann etwas in unserer Kognitionsstruktur ändern. Eine tiefe Erfahrung kann Ressource und Quelle sein, weil sie eine tatsächliche Veränderung bewirkte.

Das Begegnen findet in der Tiefe statt und wirkt in der Tiefe und «macht etwas» in der Tiefe. Jenseits des Bewusstseins wohlgemerkt. Ein solcher Zustand ist nicht eine «Erweiterung des Bewusstseins». Was man in der Regel mit dieser Floskel meint, ist eine erweiterte Wahrnehmung. Wahrnehmung und Bewusstsein sind jedoch nicht dasselbe. Und wieder ist es das Containing, das Gefäß-Sein, welches die eigentliche Leistung ist. Ein LSD-Trip führt nicht zu einer Erweiterung des Bewusstsein. Richtig angewendet, führt er zu einer Erweiterung des Containers. (Just for the record die obige Erfahrung war kein LSD-Trip.) Jedoch ist auch das Containing nicht dasselbe wie Bewusstsein. Zurück zum Beispiel mit der Wolke: Containing ist der Himmel. 

Diese «Veränderung» (vielleicht ist es auch ein Aktivieren, ein Integrieren, ein Impuls) in der Tiefe kann und muss sich im konkreten Leben, in der Bewegung, in der Enaktion zeigen, um wirklich bedeutungsvoll zu sein. 

Denn Erfahrung ist eine Phase eines großen Kreislaufs. Sie ist natürlich, und alles in der Natur ist zyklisch, wie etwa der Wasserkreislauf. Der Ozean ist nicht das Ende. Es gibt kein Ende. Erfahrung ist Teil eines Feedback-Loops, eines Dialogs. Einer Spirale. Eines Spiralflusses.

Von da her sind diese Worte bedeutungslos, und darum habe ich das, was ich sage, fortlaufend wieder auseinander genommen: damit keine Konzepte und Kategorien entstehen. Denn eine tiefe Erfahrung geschieht jenseits von Konzepten und Kategorien. Von ihr habe ich berichtet. Ganz kurz. Vermutlich ist es nicht gelungen. Gelingen tut das nur mit Poesie. Mit einem Text, der dich so gut wie möglich in diesen Zustand transportiert. Mit Text, Bild und Musik vielleicht, wie im letzten Beitrag, Mit dem Meer atmen. Oder eben, natürlich, mit der richtigen Praxis. Durch sie kommen wir von den Ressourcen zur Quelle (engl. source). Die Quelle ist ein Zustand. Integrale Bewegung ist ein Zugangs-Training. Ein Zustands-Training. Und hier kreieren wir durch eine integrale Bewegungspraxis den wichtigsten Feedback-Loop überhaupt, die existenzielle Dynamik: Durch die integrale Bewegungspraxis kommen wir in den Zustands-Raum. In ihm und aus ihm entfaltet sich integrale Bewegung.

Wunderbar.

Zeugnis ablegen

Zeugnis ablegen ist eine religiöse Formulierung und damit etwas problembehaftet. Sie hat mich jedoch immer seltsam berührt und tut es weiterhin. Zeugnis ablegen heißt: einstehen, verkörpern, ein sichtbares Zeichen setzen, eine Enaktion, ein gestaltendes Handeln.
Der integraldynamische Prozess «beginnt» in vielerlei Hinsicht mit dem Beobachten/Bezeugen. Der Zeuge ist distanziert, dadurch geschieht eine Ent-Identifikation, dadurch beginnt der Prozess. Doch nichts ist linear. Und so wird der Zeuge/die Zeugin zur integrierenden Kraft in die Welt hinein, indem er/sie Zeugnis ablegt.
Bezeugen kann eine unglaubliche Kraft sein. Menschen überleben die unvorstellbarsten Umstände wie etwa Konzentrationslager, nur um Zeugnis ablegen zu können. Bezeugen gestaltet die Welt zum Guten. Deshalb muss das Leugnen von Verbrechen bestraft sein, die im kollektiven Gedächtnis verankert bleiben müssen. Deshalb müssen die zwölf Wichtigtuer, die für 70% der weltweiten Falschinformationen zu Corona verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden.

Alles, was ich je aus der Bewegung heraus geschrieben habe, ist Zeugnis. Ich schreibe nicht über Bewegung, sondern aus ihr heraus. Ich lege Zeugnis ab. Ich hoffe, es ist mir hier gelungen, ohne neue Konzepte aufzubauen.
Auch was in den kommenden Beiträgen kommt, ist Zeugnis, ebenso, wo es hinführen wird. Du kannst gespannt sein.

 

 
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