Aikido Open Hands

Dieser Text ist mir vor etwa dreißig Jahren auf Englisch begegnet. Ich hatte ihn übersetzt und schon oft an meinen Kursen vorgelesen. Was für Aikido gilt, gilt ebenso für Open Hands. Enjoy!

Eine sanfte Antwort

von Terry Dobson


Ein Wendepunkt in meinem Leben kam eines Tages in einem Zug in den Vorstädten von Tokyo an einem schläfrigen Frühlingsnachmittag.
Der alte Zug rasselte und ratterte über die Schienen. Er war vergleichsweise leer – ein paar Hausfrauen mit ihren Kindern im Schlepptau, einige alte Leute.


An einer Station öffnete sich die Türe, und ganz plötzlich wurde der ruhige Nachmittag von einem Mann erschüttert, der aus voller Lunge herumschrie – bösartige, unverständliche Flüche. Gerade als die Türe sich schloss stolperte der Mann, immer noch brüllend, durch den Spalt in unseren Wagen. 
Er war groß, betrunken und dreckig. Er trug Arbeiterkleidung. Vorne waren seine Kleider steif von eingetrocknetem Erbrochenem. Seine Augen leuchteten dämonisch rot. Sein Haar war schmutzig und verkrustet.
Schreiend schwang er sich zu einer Frau mit einem Baby. An der Schulter getroffen, fiel die Frau auf ein älteres sitzendes Paar. Es war ein Wunder, dass dem Baby nichts passiert war.

Das ältere Paar sprang auf und wollte sich am anderen Ende des Wagens in Sicherheit bringen. Der Arbeiter versuchte, mit seinen Füssen nach dem Rücken der Frau zu treten. 
«Ich tret’ dir in deinen fetten Hintern!», schrie er.
 Er trat daneben, die alte Frau eilte in Sicherheit. Das machte den Betrunkenen so wütend, dass er den Metallpfosten in der Mitte des Wagens packte und versuchte, ihn aus der Verankerung zu reißen. Ich konnte sehen, dass eine Hand verschnitten war und blutete.
 Der Zug ratterte weiter, die Passagiere erstarrt vor Angst. 
Ich stand auf.

Ich war jung und gut in Form. Für die letzten drei Jahre hatte ich jeden Tag acht Stunden Aikido trainiert. Ich liebte die Würfe und das Ringen. Ich dachte, ich sei ein ganz Starker. Das Problem war nur, dass meine Kampftechniken noch nicht in einem echten Kampf getestet worden waren. Als Studenten des Aikido war es uns nicht erlaubt zu kämpfen.
Mein Lehrer, der Gründer des Aikido, lehrte uns jeden Morgen, dass diese Kunst dem Frieden verpflichtet war. «Aikido», sagte er immer und immer wieder, «ist die Kunst der Versöhnung. Wer die Absicht hat zu kämpfen, hat seine Verbindung zum Universum unterbrochen. Wenn ihr andere Menschen dominieren wollt, seid ihr schon geschlagen. Wir studieren hier, wie wir Konflikte lösen, nicht wie wir sie starten.»


Ich hörte mir seine Worte an. Im tiefsten meines Herzen jedoch, hätte ich alles gegeben, um ein Held sein zu können. Ich wollte eine Chance, eine absolut legitime Gelegenheit, bei der ich den Unschuldigen retten kann, indem ich den Schuldigen zerstöre.

«Das ist es!», sagte ich zu mir selbst und stand auf. «Dieser Typ ist betrunken, gemein und gewalttätig. Menschen sind in Gefahr. Wenn ich nicht gleich etwas unternehme, wird vermutlich jemand verletzt. Dem zeige ich, was Sache ist.»

Als ich aufstand, sah der Betrunkene eine neue Gelegenheit, worauf er seine Wut fokussieren konnte. 
«Aha!«, röhrte er, «ein Fremder! Du brauchst eine Lektion in japanischen Manieren!»


Ich hielt mich sanft am Gestänge über mir. Ich warf ihm langsam einen Blick der Abscheu und Verachtung zu. Ich wollte ihn wütend, denn je wütender er war, desto sicherer war mein Sieg. Er sammelte sich, um mich anzugreifen. Er würde nicht ahnen, was ihn erwartet.

Einen Sekundenbruchteil bevor er sich bewegte, rief jemand «Hey!» Ich erinnere mich, wie mich dieser seltsam fröhliche, schwungvolle Ruf irritierte: «Hey!»

Ich drehte mich nach links, der Betrunkene nach rechts. Wir beide starrten einen kleinen alten Japaner an. Er musste in seinen Siebzigern sein, dieser winzige kleine Mann, der da in seinem Kimono saß. 
Er blickte mich nicht an und strahlte den Arbeiter an, als ob er ein überaus wichtiges, ungemein willkommenes Geheimnis mit ihm zu teilen hätte.

«Komm hierher», sagte der alte Mann in einfacher Landessprache, dem Betrunkenen leise zuwinkend. «Komm hierher und sprich mit mir.» Er winkte noch einmal sanft. Der große Mann folgte, als würde er von einem Faden gezogen. Er stand breitbeinig vor den alten Mann und bäumte sich beängstigend vor ihm auf. 
«Mit dir reden?», röhrte er, «Warum zur Hölle soll ich mit dir reden?» 
Der Betrunkene stand nun mit seinem Rücken zu mir. Wenn sich sein Ellbogen auch nur einen Millimeter bewegt hätte, ich hätte ihn auf den Boden geworfen.

Der alte Mann fuhr fort, den Arbeiter anzustrahlen. Es war nicht die geringste Spur von Angst oder Zurückhaltung in ihm. 
«Was hast du getrunken?», fragte er sanft, seine Augen leuchtend vor Interesse.

«Ich habe Sake getrunken», bellte der Betrunkene, «und das geht dich einen Dreck an.» 


«Oh, das ist wundervoll», sagte der kleine Mann entzückt, «ganz wundervoll! Weißt du, ich trinke auch Sake. Jeden Abend wärmen ich und meine Frau – sie ist sechsundsiebzig, weißt du - uns eine Flasche Sake und nehmen sie mit in unseren Garten, und wir sitzen auf der alten Holzbank, die der erste Lehrling meines Großvaters für ihn gemacht hatte. Wir sehen uns den Sonnenuntergang an, und wir betrachten unseren Dattelbaum. Mein Urgroßvater pflanzte diesen Baum, weißt du, und wir machen uns etwas Sorgen, ob er sich von diesen schlimmen Eisstürmen erholen wird, die wir letzten Winter hatten. Dattelbäume erholen sich nicht gut nach Eisstürmen, obwohl ich sagen muss, dass sich unserer besser gehalten hat, als wir erwartet hatten, vor allem, wenn man die schlechte Beschaffenheit des Bodens in Betracht zieht. Trotzdem, er ist immer noch sehr schön anzuschauen, wenn wir unser Sake nach draußen nehmen und den Abend genießen - sogar wenn es regnet!» 
Er schaute den Arbeiter mit leuchtenden Augen an, glücklich, seine Erlebnisse mitteilen zu können.

Im Versuch, den komplizierten Ausführungen des Mannes zu folgen, entspannte sich der Gesichtsausdruck des Betrunkenen. Seine Faust löste sich langsam.
 «Ja», sagte er, «ich habe Datteln auch sehr gerne…» Seine Stimme versagte.

«Ja», sagte der alte Mann lächelnd, «und ich bin sicher, du hast eine wundervolle Frau.»

«Nein», antwortete der Arbeiter, «meine Frau ist tot.» Er ließ den Kopf hängen. Ganz langsam, sich mit der Bewegung des Zuges wiegend, begann der große Mann zu schluchzen. 
«Ich habe keine Frau, ich habe kein Zuhause, ich habe keine Arbeit, ich habe kein Geld, und ich kann nirgendwo hingehen. Ich schäme mich so für mich.»
 Tränen liefen über sein Gesicht.

In diesem Moment hielt der Zug an meiner Station. Die Leute strömten in den Wagen, als sich die Türen öffneten. Ich musste mir meinen Weg nach draußen bahnen. Ich hörte den alten Mann, wie er voller Mitgefühl seufzte.
 «Oje», hörte ich ihn mit ungetrübter Heiterkeit sagen, «das sind in der Tat schwierige Umstände. Setz dich und erzähl mir mehr davon.»

Ich drehte mich für einen letzten Blick um. Der Arbeiter lag ausgestreckt auf dem Sitz, seinen Kopf im Schoß des alten Mannes. Der alte Mann schaute zu ihm herunter voller Mitgefühl und Entzückung, mit einer Hand sanft den dreckigen Kopf streichelnd.

Nachdem der Zug abgefahren war, setzte ich mich auf eine Bank. Was ich mit Muskeln und Gemeinheit machen wollte, war mit ein paar netten Worten erreicht worden. Ich hatte Aikido in seiner reinsten Form gesehen, und seine Essenz war Liebe, so wie es der Gründer immer gesagt hatte. 


(Übersetzung aus dem Englischen Martin Schmid)

 

 
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