Existentiell oder essentiell?

 

Wir können Methoden in zwei Sparten aufteilen: essentiell und existentiell. Wir, das heißt vor allem Thomas P. Kasulis in seinem Buch «Shinto: The Way Home», auf welches ich mich hier beziehe und dessen Gedanken ich weiterverfolge. Diese Kategorisierung, die natürlich das ganze philosophische Land weitreichend durchzieht, ist das ideale Modell, um einen ganz existentiellen Unterschied in den Methoden aufzuzeigen.

Die essentiellen Methoden sagen dir, was du tun musst, um zu einem vorgegebenen Ziel zu kommen. Sie verschreiben etwas. Die existentiellen Wege beschreiben etwas, ohne ein Ziel vorzugeben. «Tu dies und das, damit du zu diesem Ziel kommst» ist der essentielle Weg. Konkretes Beispiel: «Aktiviere im heraufschauenden Hund (Urdhva Mukha Svanasana) deine Gesäßmuskeln, um deinen unteren Rücken vor Überbelastung zu schützen. Ziehe die Schulterblätter nach hinten und unten, um den Brustbereich zu weiten (und dir nicht die erste Rippe zu blockieren.»
Der existentielle Weg klingt vielleicht so: «Der Atem ist der Wind. Der Körper ist das Meer. Deine Bewegung ist die Welle.».

Die traditionellen Methoden, wie wir sie kennen, sind fast ausschließlich essentielle Methoden. Sie verschreiben spezifische Bewegungen (oder Geisteshaltungen, Meditationstechniken) für ein vorgegebenes Resultat. Yoga zum Beispiel ist ein endliches Spiel, selbst wenn es bedeutet, aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit überzutreten, indem man aus dem Kreislauf der Wiedergeburt austritt und das «um sich selbst Kreisende zur Ruhe kommt» (Patanjali, Vers 2). Taiji ist eine Kampfkunst, und so entspannt es auch aussehen mag, am Ende geht es doch ums Gewinnen. Oder, in einer weichgespülten westlichen Version, um Wellness.

Integrale Bewegung enthält in ihrer situativen Konkretisierung natürlich auch Anweisungen wie beim oben genannten Yoga-Beispiel. Doch der Gesamtrahmen 0ffenbart integrale Bewegung als eine existentielle Methode. Die Verben der Integraldynamik und die daraus entstehenden Rhythmen führen zu bestimmten Bewegungsqualitäten. Qualitäten wie zentrieren, öffnen, oder Stabilität, Agilität, Flexibilität und Elastizität etc. sind im Kontext integraler Bewegung menschliche Potenziale, wogegen sie in einer Methode wie Taiji die Voraussetzung für «richtiges» Taiji sind. Integraldynamik, integrale Bewegung, die Rhythmen, das daraus entstehende RIVERS und das darin eingebettete Open Hands sind unendliche Spiele.

Essentiell ist exklusiv. Existentiell ist inklusiv. Dies bedeutet: Wenn du Taiji machst, produzierst du keinen Tango. Wenn du dich integral bewegst, ist beides (und alles) möglich. Natürlich bedient sich integrale Bewegung nicht bei essentiellen Methoden und bastelt ein buntes Mosaik daraus, noch ist sie Patchwork oder «die Essenz dieser und jener Methoden». Sie – beziehungsweise die ihr zugrunde liegende Integraldynamik – ist die gestaltende Kraft, aus denen alle Gestalten hervorgehen.

Essentielle Methoden spezialisieren. Existenzielle Methoden hingegen integrieren. Es gibt nichts Natürliches und Sinnvolles, das von integraler Bewegung nicht integriert werden kann.

Essentiell bedeutet lernen um zu können, existentiell bedeutet fortwährend kennen lernen. Integrale Bewegunng involviert. Schließlich geht es um deine Bewegung, beziwhungsweise, wie sich Bewegung durch dich einzigartig entfaltet. Im Taiji geht es um eine Taiji-Form, die du lernst und möglichst genau reproduzierst. Bei integraler Bewegung geht es darum, dass du erlebst und Erfahrungen machst, sie differenzierst und integrierst, subtilisierst und verwesentlichst. Die Erfahrung an sich ist nicht das Ende und nicht Selbstzweck, was integrale Bewegung und vor allem auch RIVERS PLAY wiederum deutlich von New Age-Methoden unterscheidet. Unendliche Spiele sind keine «New Games». Sie sind nicht nur Erlebnis, sondern existentielles Erleben. Erleben und erfahren durch Bewegung führen im richtigen Setting (einem Kultivationssetting) in einem Feedback-Loop zu neuen Bewegungen, was wiederum zu neuen Erfahrungen führt, und so weiter. Diesen Prozess können wir Wachstum oder Entwicklung nennen. Verkörperte Kognition. Embodiment.

Im Unauflösbaren, Nicht-Nivellierbaren liegt das große Wachstumspotenzial. Hier liegt ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen essentiellen und existentiellen Methoden. Essentielle Methoden erklären. Existentielle Methoden öffnen Möglichkeiten, geben Raum und ermöglichen so das Staunen. Essentielle Methoden geben Antworten, Stand-Punkte. Existentielle Methoden stellen Fragen. Wir stellen uns diesen Fragen. Sie öffnen Räume in und um uns und bewegen uns. Daher können wir sagen: Existentielle Methoden sind dialogisch. Essentielle Methoden sind monologisch.

Taiji, Yoga, Qigong, Tischtennis und alle existentiellen Methoden kannst du trainieren oder üben. Integrale Bewegung fördert ein durch Bewegungsfreude geweitetes Bewegungsspektrum. Du bist integrale Bewegung, erforschst, entdeckst, spielst, statt zu trainieren. Sie entwickelt sich (und dich) aus sich selbst heraus.

Die Differenzierung von essentiell und existentiell ist auch gerade in unserer Zeit von enormen Wert. Momentan ist Essentialismus en vogue, die Besinnung auf das Wesentliche, die Reduktion. Bestseller werden darüber geschrieben, dicke Bücher, ironischerweise. Daran ist natürlich nichts falsch, doch die Gefahr besteht, daraus in bester postmoderner Manier wieder, wie auch mit den Traditionen aus dem Osten, ein rein ästhetisches und letztlich kosmetisches Prinzip zu machen. Wenn wir uns hingegen dem Existentiellen widmen, kommen wir unweigerlich in die Tiefe, und die Besinnung auf das Wesentliche ist die natürliche Folge davon. Denn das Existentielle und die Kultivationsdynamik (bezeugen und empfinden, differenzieren und integrieren, subtilisieren und verwesentlichen) sind eng ineinander verwoben. Es gibt keine Kulktivationsdynamik, ja, keine Rhythmen, kein Embodiment, ohne die Existenz des bewegten Menschen, das heißt, das Involviertsein des ganzen Menschen. Unweigerlich wird in dieser Dynamik das Essentielle herausgeschält werden, dafür sorgt der Aspekt des Verwesentlichens. Das Unwesentliche fällt weg.

Jean-Paul Sartre sagte: «Die Existenz geht dem Wesen voraus». Vielleicht ist der Prozess nicht ganz so linear. Aber eines ist sicher: Integrale Bewegung kann einen neuen Zugang zu dieser Aussage eröffnen.

Das ist der Unterschied, der aufzeigt, wie und warum integrale Bewegung und RIVERS tatsächlich eine neue Generation der Bewegung und des Bewegtseins sein können.

 

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