Yoga vs. christliche Praxis?

 
Yoga Vs. christliche Praxis

Ausgangslage

Im Juli 2020 erschien im Schweizer Radio SRF und auf der Website srf.ch die Nachricht, dass die orthodoxe Kirche Zyperns von Yoga abrät. Man sollte die Gebetspraxis des Yoga nicht praktizieren. Sie sei nicht vereinbar mit dem Glauben.

Begründet wird dies laut Beitrag damit, dass «…das eigene Ich beim Yoga sehr betont wird, also das Hineingehen in sich, um sich selbst zu finden. Das entspricht nicht dem Gebet, so wie es im östlichen Christentum verstanden wird. Beten ist ein Heraustreten in die Kirchengemeinschaft; man betet zu Jesus Christus.»

Es stellen sich nun folgende Frage: Ist diese Nachricht noch für andere als Yoga-Praktizierende aus Zypern, die bei ihrer Kirche nachgefragt hatten, ob diese Praxis mit dem Glauben vereinbar sei, relevant? Wenn Yoga ein Fitnessprogramm ist: nein. Wenn Religion und Kirche irrelevante Überbleibsel aus einer vorwissenschaftlichen Zeit sind: nein. Falls eines von beiden etwas mehr ist: vielleicht schon. Denn es stellen sich andere Fragen, die nicht direkt damit zu tun haben, ob man darauf hört, was die Kirche empfiehlt. Zum Beispiel: Was ist Yoga bei uns? Was sind unsere Wurzeln? Gibt es westliche körperbasierte Gebetsformen? Und vielleicht auch, wenn man die Empfehlung nicht sofort in den Wind schlägt: Wie wird diese Empfehlung begründet? Und ist dies die einzige mögliche und richtige Lösung?

Zum Kontext: Die Ströme des Christentums

Ganz kurz: Die orthodoxe (östliche) und die westliche Kirche haben dieselben theologischen Inhalte. Sie unterscheiden sich in der Praxis, Gewichtung und Ausgestaltung dieser Inhalte. Da sie sich theologisch nicht unterscheiden, können zum Beispiel katholische Mönche in der Benediktinerabtei Niedaralteich (D) ihre Gottesdienste nach orthodoxen (byzantinischen) Riten feiern, und andererseits ist auch das orthodoxe Jesus- oder Herzensgebet ohne Weiteres für westliche Christen praktizierbar.

Auch die katholische Kirche hat natürlich ihre Meinungen und Empfehlungen zu Yoga, die immer wieder in den Medien aufpoppen. Hier soll vor allem festgehalten werden, was sie im zweiten vatikanischen Konzil bahnbrechend formuliert hat, denn darauf hat sie sich in ihrer Argumentation zu besinnen. Und vielleicht ist es gut, die Kirche daran zu erinnern.

In der Erklärung "Nostra aetate" vom 28. Oktober 1965 heißt es unter Punkt 2: «So sind auch die übrigen in der ganzen Welt verbreiteten Religionen bemüht, der Unruhe des menschlichen Herzens auf verschiedene Weise zu begegnen, indem sie Wege weisen: Lehren und Lebensregeln sowie auch heilige Riten. Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.»

Kurz und gut, das, was die orthodoxe Kirche sagt, kann auch die nicht-orthodoxen Christen und die Einst-, Noch- oder Papier-Christen interessieren. Also viele von uns. Und es ist eine Haltung, die einen Dialog ermöglicht. Denn um diesen Strahl zu erkennen, muss ja ein ernst gemeintes Interesse da sein.

Die Frage nach der richtigen Praxis

Bevor wir aber weiterfahren, ist es wichtig, ein Muster loszulassen. Kaum spricht man vom Christentum oder gar von Jesus Christus, wird man als Missionar betrachtet. Diese Verlinkung hat natürlich die Kirche selbst kreiert. Sie ist auf positive Weise im Christsein angelegt und auf oft negative Weise verwirklicht worden. Doch es ist an der Zeit, diese Verlinkung zu lösen. Glauben Sie mir einfach: Ich bin kein Missionar. Punkt.

Da dies getan ist, können wir unsere Frage ein wenig anpassen, ihr eine praktischere Richtung geben. Orthodox bedeutet altgriechisch orthós „richtig“, „geradlinig“ und dóxa „Meinung“. Wir können nun als erstes die Frage nach Meinungen, Dogmen und Ansichten hinter uns lassen und uns von der Suche nach einer Orthopraxie, also einer «richtigen Praxis» leiten lassen. Möchte das nicht jeder und jede Praktizierende, egal welcher Richtung und Methode? Wäre es nicht wünschenswert, die eigene Praxis immer wieder zu überprüfen und zu optimieren? Wer entscheidet letztendlich mit welchen Kriterien, was eine «richtige Praxis» ist?

Die Orthopraxie, der wir hier auf der Spur sind, stellt die Frage nach einer spirituellen Praxis, die den Körper einbezieht. Und die damit die vom Westen kultivierte Trennung von Körper und Geist überwindet.

Kommentar zum Statement

Das Statement der Kirche begründet die Selbst-Bezogenheit der Yoga-Praxis als unvereinbar mit der christlichen Praxis. Denn diese ist eine Praxis des Miteinander, der Gemeinschaft, des Füreinander.

Wir können uns zwei Räume mit zwei Türen vorstellen. Auf der Türe des einen Raumes steht «Ich», auf der Türe des anderen Raumes steht «Wir». Die praktizierenden Yogis, inklusive des Tantra übrigens, treten in den Raum ein, auf dessen Türe «Ich» steht. Die Christen hingegen betreten den Raum, welcher mit «Wir» angeschrieben ist. Jeder Raum hat verschiedene Stockwerke, und natürlich geht es bei beiden darum, das Ego zu transzendieren. Im Yoga bedeutet dies, die Vereinigung von Atman und Brahman zu realisieren. Eine der fünf Niyamas ist Ishvara Pranidhana, die Gottesverehrung. (Davon wird man im Fitness-Yoga nichts zu hören bekommen.) Die hinduistische Gottes-Vorstellung ist jedoch eine andere als die christliche, weshalb man nun nicht argumentieren kann, es sei doch letztendlich alles dasselbe. Christentum und Hinduismus sind beides Befreiungsreligionen. Doch wohin sie befreien, ist in der Tat diametral entgegengesetzt. Hinduismus befreit aus der (Re-)Inkarnation, das Christentum befreit in die vollständige Inkarnation hinein. Um zurück auf die Räume zu kommen: Der Prozess der Ent-Selbstung geschieht im Hinduismus im «Ich»-Raum. Die christliche Kenosis hingegen, ebenso eine Ent-Selbstung, geschieht immer in Beziehung und auf Beziehung hin. Auch Brahman und das christliche Gottesverständnis unterscheiden sich darin, dass Brahman ein unpersönliches Konzept Gottes darstellt (welches im Einzelnen sich als Atman realisiert, jedoch immer noch unpersönlich ist), während der christliche Gott ein persönlicher ist, ein Gegenüber, ein Entgegenkommendes, ein Liebendes. Gott ist also nicht gleich Gott.

Wir können sagen: Yoga geschieht alleine, im Christentum geschieht nichts alleine. Natürlich ist dies ein ganz grobes Raster, das für einen Artikel, und nicht für ein umfassendes Buch, reichen kann. Natürlich gibt es tausend Differenzierzungen. Der buddhistische Bodhisattva, der immer wiederkehrt, bis alle Wesen erlöst sind, und die buddhistische Dreiheit buddha-dharma-sangha, also das Selbst, die Lehre und die Gemeinschaft sind Beispiele. Doch wir können uns hier auf die Yoga-Praxis beschränken und müssen uns immer wieder auf die Kern-Aussagen besinnen, die zwei verschiedenen Äcker, nicht auf jede individuelle Pflanze.

Man kann den Unterschied zwischen Yoga-Praxis als «Gebetsform» (ich komme gleich darauf zurück) und der christlichen Praxis auch so beschreiben, dass die Yoga-Praxis nach innen gerichtet ist, während die christliche Praxis nach außen gerichtet ist, und hier ist auch der missionarische Aspekt verwurzelt. Natürlich, es gibt christliche Eremiten, und es gibt Yoga-Massen-Events. Doch die Tendenz sollte klar sein: der Yogi auf seiner Matte wird auch im heißen, vollen Raum, wo Matte an Matte gelegt ist, aufgefordert, sich auf sich selbst zu konzentrieren und sich nicht von links und rechts und vorne und hinten ablenken zu lassen. Die Christen hingegen begehen gemeinsam ihre Rituale und haben einen starken karitativen Aspekt. Im Christentum braucht es den Ort, «wo zwei oder drei versammelt sind».

Das Schöne am Statement der orthodoxen Kirche ist, dass Yoga nicht nur als Fitness angesehen wird, sondern als «Gebetsform», als spirituelle Praxis anerkannt wird.

Hier wird für eine zweite Gruppe von Yoga-Praktizierenden, nach den Einst-Christen, die Beschäftigung mit dem Thema irrelevant, denn Yoga «ist doch einfach gesund»? Dies steht ebenso in den Kommentaren zum Artikel auf srf.ch, wie: «Yoga mit Religion und Beten zu vergleichen ist absurd.» Eine solche Sicht des Yoga basiert offensichtlich auf dem westlichen Yoga-Fitness-Angebot. Doch natürlich ist Yoga ein uralter spiritueller Weg, bzw. eine Fülle von Wegen, und nicht nur Fitness. Wenn man Yoga und Pilates und Beine-Bauch-Po gleichsetzt, hat sich die Thematik natürlich erledigt, auch für die Praktizierenden. Sie tauschen Yoga aus und machen ohne weitere Verluste Beine-Bauch-Po.

Es wird in der Begründung der orthodoxen Kirche übrigens nicht damit argumentiert, dass fremde Götter angerufen würden. In vielen esoterischer ausgerichteten westlichen Yoga-Angeboten geschieht implizit oder explizit eine Verehrung fremder Götter, was eine Ablehnhaltung der Kirche nachvollziehbar machen würde. Doch diese Praktiken und deren Potenziale und Fallen sind ein anderes Thema, welches ein anderes Mal differenziert betrachtet werden kann.

Zurückkommend auf das simplifizierte Bild der zwei Räume und die Differenzierung von Introvertiertheit vs. Gemeinschaft, von alleine vs. gemeinsam, ist die Argumentation folgerichtig und nachzuvollziehen.

Doch ist damit das letzte Wort gesprochen?

Ein Kern mit Folgen

Bevor wir uns nun der Frage nach anderen Lösungsansätzen zuwenden, möchte ich jedoch auf etwas hinweisen, das in dieses Raster von Ich/Wir passt, einen wahren Kern, der nicht wieder über Bord geworfen werden sollte, auch wenn wir im Folgenden noch etwas weiter denken. Wir leben in einer Zeit und Kultur, in welcher sich jedes Individuum möglichst frei verwirklichen kann, darf, ja soll. Zu dieser Verwirklichung wird herangezogen, was gerade passend ist. Das kann Religion sein, eine Yoga-Praxis, etwas ganz Anderes. Man nimmt sich, was dienlich ist und hat dafür eine noch nie dagewesene Auswahl. Dies führt zu einer Konsum-Haltung, die viele Yoga-Lehrer kennen, die sich StudentInnen wünschten und den Raum voller KonsumentInnen haben. Das ist natürlich nicht nur im Bereich des Yoga so. Spirituelle Wege und Religionen sprechen StudentInnen an, doch das hat sich in unserer Zeit massgeblich gewandelt. Man bedient sich, statt zu dienen, etwa in der Form, ein verantwortungsvolles Glied einer Traditions-Kette zu werden. Ironischerweise hat gerade die katholische Kirche dieses Konsumententum gefördert, indem die direkte, unmittelbare Gotteserfahrung (und damit die Innenschau) nicht mehr gefördert, sondern durch einen hierarchischen, externen Apparat ersetzt wurde. Die Eucharistie, das direkte Miteinander und Füreinander, wurde von der Kirche instrumentalisiert, hierarchisiert und patriarchalisiert, indem nur Priester, und Priester sind Männer, das Brot austeilen dürfen. Aus dem durch das Christus-Ereignis und die Taufe bereits eingegliederten vollwertigen Mitglied einer dynamischen Gemeinschaft wurde ein unmündiger Konsument gemacht, der buchstäblich gefüttert wird. Während sich die Kirche vom Menschen entfernte und folgerichtig der Mensch sich nun von dieser Kirche abwendet, ist das Konsumententum geblieben, ironischerweise mit einem Pochen auf direkte, unmittelbare Selbstverwirklichung. Auf die Bühne dieses kulturellen Umfelds und des spirituellen und rituellen Vakuums ist Yoga und sind die anderen östlichen Traditionen aufgetreten und wurden so mit bester Absicht instrumentalisiert.

Die Instrumentalisierung ist das Eine. Eine andere wichtige Frage ist, ob eine kulturelle Verwurzelung sich beliebig austauschen lässt. Wenn ja, dann kann sich jeder Mensch seine Wurzeln selbst aussuchen, und es scheint viele Menschen zu geben, für die diese Praxis sehr gut aufzugehen scheint und keinerlei Wiedersprüche in sich birgt. Diese Aussage ergibt sich aus persönlichen Gesprächen. Es fehlen mir hier Angaben aus Quellen, die eine Studie über Jahrzehnte mit solchen Menschen liefern würde. Falls es diese Studien gibt, kenne ich sie noch nicht. Ich weiß aber auch um prominente westliche Vertreter zum Beispiel der Zen-Tradition, welche die fehlenden Wurzeln in der eigenen spirituellen Kultur als negativ erleben. Andererseits gibt es Menschen, die sich von ihrem Wesen her nicht Wurzeln in anderen Kulturen und Traditionen suchen können, sondern die um eine Rück-Verwurzelung in der eigenen Tradition bemüht sind, aus einem Ahnen heraus, dass unsere Kultur ja nicht auf bloßem Unsinn wurzeln kann. Und aus einem Vakuum heraus, auf das ich nun zu sprechen komme.

Das fundamentale Problem des Christentums

Es gibt nicht nur ein spirituelles (mythologisches) und rituelles Vakuum in unserer Kultur, sondern noch ein viel fundamentaleres. Und hier zeigt sich das Problem mit dem Nein der Kirche zum Yoga: Sie kann keine Alternative bieten. Das Christentum hat keine körper-basierte Praxis. Deutlicher formuliert: Unsere Kultur bietet uns keine spirituelle Praxis, die den Körper einbezieht. Offensichtlich hat Jesus kein Asana-Yoga-System entwickelt, obwohl ja «das Wort Fleisch wurde», oder gerade deshalb. Wenn man ihn einem Yoga zuordnen müsste, wäre sein Leben wohl dem Bhakti-Yoga am nächsten, doch wie gesagt, es gibt fundamentale Unterschiede, so dass dies nur ein grober Vergleich ist. Jesus war kein Yogi. Die Körperlichkeit als eigentliche Praxis, war ganz klar in Jesus’ Leben und Wirken präsent, doch diese wurde mit der Konstituierung der Kirche unter starkem Einfluss der platonisch geprägten griechischen Philosophie vollständig untergraben und zunichte gemacht. Wieder, das Intime wurde von einem externen Apparat verdrängt, dessen Konstituierung zumal dahingehend gelenkt wurde, dass die Männer das Sagen hatten und die Frauen (tendenziell Vertreterinnen der intimen Perspektive) verdrängt wurden. Zudem liegen die Wurzeln des Christentums nicht in einer industrialisierten, sitzenden, von Bewegungsmangel geprägten Gesellschaft, sonst hätte es wohl auch dazu Gleichnisse gegeben, die den Menschen zum Bewegen aufgefordert hätten.

Kurz: Die Kirche kann keine körper-basierte Alternative bieten, da sie den Körper (das nur intim und damit direkt Erfahrbare, und damit auch die Frau als Erfahrungsträgerin, und natürlich die Sexualität) denunzierte. Andere spirituelle Traditionen haben uns hier also ein paar tausend Jahre voraus. Was tun?

Lösungsvorschläge

Die Lösung der Kirche ist, zu sagen: Die Kirche ist der Körper. Doch das ist undifferenzierte Semantik, kein Lösungsvorschlag. Die Kirche ist ein Wir-Körper, trotzdem gibt es aber auch den Ich-Körper. Auch das Pilgern ist keine christliche körperbasierte Praxis, denn alle Religionen kennen das Pilgern (und alle Religionen sind Pilger). Es ist interreligiös verankert, taugt also nicht als christliches Argument. Im besten Fall zeigen solche Argumentationen auf, dass die Kirche hier wirklich keine Ahnung hat, wovon sie spricht.

1. Erstens kann man ganz einfach argumentieren, dass eine Gemeinschaft aus Individuen besteht. Je gesünder diese Individuen sind, desto gesünder ist die Gemeinschaft. Je offener die Individuen sind, desto offener ist die Gemeinschaft. Je zentrierter die Individuen sind, desto stabiler ist die Gemeinschaft. Das Gegenargument ist dann, dass es auch westliche Bewegungs-Systeme gibt, die der Gesund-Erhaltung dienen, auch ein Christ könne joggen oder Pilates praktizieren. Der eigentliche Punkt, weshalb dies jedoch auch noch nicht wirklich ein Lösungsvorschlag ist, ist derjenige, dass es eine Diskussion ist, die endlos sein wird (Stichwort leibliche Auferstehung zum Beispiel?), und auf Meinungen und Definitionen basiert. Doch wir suchen hier ja nicht so sehr die Orthodoxie, die richtige Meinung, sondern die richtige Praxis, die Orthopraxie.

2. Zweitens, und dies ist der erste wirkliche Vorschlag: Man könnte eine Gemeinsamkeit herausfiltern, in beiden Praktiken darauf fokussieren und sie sich gegenseitig verstärken lassen. Das Problem ist das «Herausfiltern», bzw. die postmoderne Beliebigkeit, die damit entstehen kann. Man nimmt sich, was einem gefällt. Doch mein Vorschlag ist kein Gefälligkeits-Puzzle, sondern eine erste, einfache Form des Dialogs. So könnte man die Qualität «ahimsa», die Gewaltfreiheit, als gemeinsamer Wert beider Religionen herausstreichen und diese praktizieren. Gewaltfrei Yoga zu praktizieren, also mit und für den Körper, aber nie gegen ihn, verlangt schon einiges an Kompetenz, ein Wissen über anatomische Gegebenheiten und die Kompetenz der differenzierten Körper- und Eigen-Wahrnehmung. Kultiviert man einen gewaltfreien Umgang mit sich selbst, ist die Chance doch größer, diese Kompetenz auch auf andere auszuweiten. Natürlich, streng theologisch haben wir hier wieder den Widerspruch von einer Differenzierung oder Kausalität von Selbst und Gemeinschaft, die das Christentum so nicht gelten lässt oder zu überwinden versucht. Denn es heißt eigentlich nicht «liebe deinen Nachbarn wie dich selbst», wie es meist übersetzt wird. Dies wäre ein Argument für diesen Lösungsvorschlag. Sondern es heißt richtiger übersetzt «liebe deinen Nachbarn als dich selbst», denn es gibt keine Trennung, und diese Nicht-Trennung zu realisieren ist die christliche Praxis. Doch manchmal sind es vielleicht kleine Schritte, die zum gemeinsamen Ziel führen können. Womit ich aber auch nicht sagen möchte, dass «ahimsa» ein kleiner Schritt wäre. Macht man es sich zum zentralen Prinzip und verwirklicht man es in jedem Moment so maximal wie möglich, wird dies jeden Aspekt des Lebens verändern. Individuell, gemeinschaftlich, gesellschaftlich, global. Radikal. Von der Wurzel her.

3. Mit dem dritten Lösungsvorschlag wird es komplexer: der interreligiöse Dialog. Dieser geschieht auf Organisations-Ebene mal mehr, mal weniger, tendenziell immer öfter. Aber er muss natürlich vor allem im Praktizierenden selbst geschehen, und damit sind wir wieder bei der Frage nach der richtigen Praxis, der Orthopraxie. Vielleicht kann die eine Praxis die andere befruchten, bereichern, optimieren?

Ich bin mir bewusst, dass dieser Vorschlag für den Großteil Yoga-Praktizierender nicht passabel ist, denn es gibt nicht viele, welche die Sutras differenziert studieren möchten. Aber selbst für diejenigen, die sich darauf einlassen möchten, stehen vor Herausforderungen. Die große Herausforderung ist, dass «Dialog» eine Kompetenz ist. Die erste Zutat für den Dialog ist ein gegenseitiges oder gemeinsames Interesse, die zweite ist eine gemeinsame Ausrichtung der zwei Dialog-Parteien, und seien diese auch nur intern in einem Individuum vertreten. Diskussionen sind kein Problem, die kann jeder führen. Ein Dialog ist eine Leistung. Das Interesse würde die Grundlage schaffen, etwa mit Fragen wie: Was sind die Kern-Aussagen meiner spirituellen Praxis? Was sind die Kern-Aussagen der anderen spirituellen Praxis? Welche dieser Praktiken lassen sich vereinbaren, und wo bestehen offensichtliche Widersprüche?

Das eigentliche Wachstumspotenzial liegt hier, im Gegensatz zum Ahimsa-Vorschlag, nicht in den Gemeinsamkeiten, sondern in den Unterschieden und Widersprüchen. Hier wird eine evolutionäre Spannung aufgebaut, die zu Potenzialentfaltung führen kann. Dies ist jedoch eine nicht zu unterschätzende Leistung des Menschen, die ihn mit jeder Faser seines Körpers und Geistes einbezieht. Der Prozess fördert ein integrales Bewusstsein, in welchem existentielle Unvereinbarkeiten in einem Bewusstseinsraum in der Schwebe gehalten werden können, ohne aufgelöst werden zu müssen. Die Leistung ist erstens, einen Raum zu schaffen und zweitens, eine vermittelnde (dritte) Kraft zu generieren beziehungsweise zu erkennen. Ein solcher Dialog besteht also nicht nur aus zweien, die ein Gleichgewicht suchen, sondern aus Dreien, die einen Tanz der Evolution anstreben. Wir werden unten gleich sehen, wie diese Leistung erbracht werden kann.

Aus diesem Lösungsvorschlag ergibt sich, wenn wir uns wieder auf die Frage der richtigen Praxis zurückholen, der Der Zwei-Wege-Weg. Man praktiziert zwei Methoden/Traditionen gleichzeitig und setzt sie in einen dialogischen Austausch. Das hat durchaus Potenzial. Körperlich, geistig, spirituell. Denn jede Methode ist eine Auswahl und damit eine Weglassung. Und so zeigt sich an einem schlichten Beispiel, dass zwar viele Yoga-Praktizierende eine gute Haltung haben, sich die Bewegungsqualität an sich jedoch kaum verbessert, denn dies ist nicht der Fokus des Yoga, und die Asanas und Flows fördern kaum funktionale, kraftvolle Bewegungen. Nun, das Christentum fördert diese Bewegungsqualitäten auch nicht, jedoch andere Methoden. Andererseits fördert kirchliche Gemeinschaft keine Entklebung von Faszien. Es gäbe also durchaus sehr vielschichtiges und vielseitiges Ergänzungs-Potenzial.

«Wenn wir Experten eines Gebietes werden, werden wir Gefangene unseres Prototyps», sagt Adam Grant im Buch «Originals». Und im selben Buch findet sich eine interessante Tabelle: Man hat Gewinnerinnen und Gewinner des Nobelpreises und andere Wissenschaftler verglichen. Diejenigen von ihnen, die ein Instrument spielen, haben eine 2x höhere Chance, den Nobelpreis zu gewinnen, als die «Nur-Wissenschaftler». Wissenschaftler, die auch Geschichten oder Gedichte schreiben, haben eine 12x höhere Chance. Wer tanzt oder schauspielt, hat sogar eine 22x höhere Chance, den Preis zu gewinnen. Nicht, weil diese Wissenschaftler so ergreifend Klarinette spielen oder schöne Gedichte schreiben, gewinnen sie den Preis, sondern weil sie offenere, kreativere Menschen sind. Und so können sich auch zwei Wege befruchten. Dieser Lösungsvorschlag ist jedoch weit entfernt von einem beliebigen Konsumenten-Patchwork. Der Weg des Dialogs ist anspruchsvoll und existentiell. Nichts für KonsumentInnen, sondern für ernsthafte StundentInnen.

Das Problem an diesem Lösungsvorschlag ist allenfalls der Aufwand. Zeitlich, intellektuell. Schließlich befasst man sich mit zwei ganz unterschiedlichen Gebieten, von welchen jedes für sich bereits ein lebensfüllendes Programm bietet. Es stellt sich die Frage, ob es nicht ökonomischere Möglichkeiten gäbe.

4. Hier kommt als vierter Lösungsvorschlag «Integrale Bewegung» ins Spiel. Integrale Bewegung ist eine METHODIK, die sich auf jede Bewegungsform (auf jede METHODE) anwenden lässt. Sie setzt den Formen nichts auf, sondern Potenzial darin frei. Der Kern der Integralen Bewegung sind Dynamiken, RHYTHMEN genannt, die man durch die eigene Bewegungspraxis gezielt sucht, fördert und entfaltet, womit sich dann auch die Bewegungspraxis entfaltet. Ich habe vorher angetönt, dass der Dialog eine Leistung von Dreien sei, einem A, einem B und einer vermittelnden Kraft. Dies ist einer der RHYTHMEN: die Drei. Eine ganz einfache Übung für die Drei ist zum Beispiel, Atmung und Entspannung beide gleichzeitig im Bewusstsein zu halten und, und das ist entscheidend, sie in einen Dialog treten zu lassen, worauf sich eine selbstverstärkende Dynamik bildet. Interessanterweise ist es dann genau auch dieser RHYTHMUS, der an der Wurzel des Christentums liegt, die wir als Trinität kennen. Und so können wir über eine körperliche Praxis etwas verkörpern und existentiell verstehen, was sonst essentielle theologische Abstraktion bleibt. Eine «Integrale Kirche» würde das Potenzial solcher Praktiken, wenn nicht selber erkennen und entwickeln, so doch anerkennen und fördern.

Wer bereits eine Bewegungspraxis wie Yoga hat, muss mit Integraler Bewegung keine neue Methode lernen, sondern kann die Methodik auf den vertrauten Yoga anwenden.

5. Der fünfte Vorschlag knüpft an den vierten an. Wer keine etablierte Bewegungspraxis hat, oder zu jener Gattung Mensch gehört, denen eine östliche Bewegungspraxis fremd oder suspekt erscheint und sich fragt, ob der Westen nicht auch ein spirituelles Bewegungssystem zu bieten hat? Diesen Menschen kann man jetzt sagen: Doch, das gibt es. Zweitausend Jahre nicht, jetzt schon. Solche Systeme sind noch recht neu und selten, und eines davon ist RIVERS. RIVERS ist ein umfassender Paradigmenwechsel. RIVERS wurde auf der Grundlage dreißigjähriger Erfahrung mit westlichen und östlichen Bewegungssystemen entwickelt. RIVERS ist eine Bewegungsform, die, basierend auf fundierten westlichen und östlichen Erkenntnissen aus den Bereichen der Spiritualität, Physiologie und Anatomie, Psychologie, Soziologie und Philosophie, den westlichen Menschen von heute integral fördert. RIVERS hat dabei an sich kein metaphysisches System. Es ist sowohl auf das Individuum als auch ganz klar auf Vernetzung und Gemeinschaft ausgerichtet, da das Ungetrennte und die Vernetzung nicht nur von alten Religionen, sondern von neuester Wissenschaft aus allen Gebieten benannt wird. RIVERS steht in keinerlei Widerspruch zu christlichen Meinungen und Praktiken, ohne jedoch christlich zu sein.

Summa

Ein geschlossenes System kann die Gültigkeit anderer Systeme höchstens anerkennen, jedoch nicht auf sich wirken lassen, geschweige denn einlassen. Ein systemischer Ansatz würde den Dialog zwischen Systemen fördern. Sehr schnell wird es dabei jedoch sehr komplex, vielschichtig und anspruchsvoll. Mit dem Fokus auf eine «richtige Praxis» gibt es verschiedene Möglichkeiten. Ein simpler Weg ist, eine Gemeinsamkeit zu praktizieren. Komplexer und aufwändiger ist, zwei komplette Systeme in Austausch zu bringen und zu verkörpern. Der Wachstumsprozess, der dabei in Gang kommt, kann auch mit Integraler Bewegung initiiert werden, also der Kombination einer spezifischen Methodik mit einer fast beliebigen körperbasierten Methode. Noch etwas einfacher geht es mit einer Methode, die selbst auf diesem dialogischen Nährboden gewachsen ist. Eine solche Methode, die eine Simplizität bietet, welche die Komplexität in sich trägt und das Wachstum komplexen integralen Seins und Wirkens fördert, ist RIVERS. Vielleicht wird eines Tages ein solches System von Traditionen anerkannt, da sie sich darin, man glaubt es kaum, voll entfalten können. Bis dann bleibt dem Individuum die Möglichkeit der eigenen Potenzialentfaltung als Selbst und als gemeinschaftliches Wesen mithilfe einer Methode wie RIVERS oder der Integralen Bewegung.

Und nun

An der Differenzierung von existentiellen und essentiellen Methoden sind wir im Artikel auch bereits vorbeigeschrammt. Hier gibt es in diesem Log mehr dazu. RIVERS findest du als Praxis unter @Home und mehr dazu und zu integraler Bewegung bei den Ressourcen. Bleib mit dem Newsletter (siehe unten) über Aktuelles informiert!

© Martin Schmid 2020

 
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Existentiell oder essentiell?