Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer

 
 
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Erstens, gendergerechte Sprache: Wenn der/die Schüler*in bereit ist, erscheint der/die Lehrer*in. Oder: Wenn die studierende Person bereit ist, erscheint die lehrende Person. Oder: Wenn das Schülerlein bereit ist, erscheint das Lehrerlein.

Ich werde einfach schreiben, wie es kommt. Mit «der Lehrer» meine ich gerade mich, ich bin der Meinung, dass das maskuline grammatikalische Geschlecht das richtige ist für mich.

Zweitens: Vielleicht habe ich das auch nur immer falsch verstanden… Nicht die Sprache, sondern die Weisheit.

Ich habe es immer verstanden als: Wenn ich bereit bin, kommt der Lehrer. Zeigt sich. Holt mich ab. Oder zumindest: Lässt mich ihn/sie finden.

Schön, nicht? Das hat dann so ein bisschen etwas Mystisches, ja Magisches, und vor allem macht es mich zum Würdigen, vielleicht sogar zum Auserwählten. Und aus unserer Begegnung wird so etwas wie Fügung oder Schicksal, oder sonst eine Form von kosmischem Ereignis, von welchem ich Teil bin. Wunderschön. Auch wenn mir das alles nicht so bewusst ist. Oder gerade deswegen. Es gibt mir tatsächlich ein Gefühl von Stimmigkeit. Wenn er denn kommt.

Nun. Was mit diesem Bonmot oder Glaubenssatz wohl eher gemeint ist, habe ich erst im Pandemie-Jahr geschnallt, als ich wieder als regulärer (wenn auch stellvertretender) Primarlehrer arbeitete. Ich begegne da immer wieder einzelnen Schülerinnen und Schülern (nett abgekürzt SuS), die zwar schon Jahre zur Schule gehen, aber offensichtlich noch nicht verstanden haben, was Schule ist, oder eben, was ein Lehrer ist. Dementsprechend sind diese SuS immer irgendwie im falschen Film, und daher bin ich als Lehrer Teil dieses nicht verstandenen Settings.

Und so habe ich die scheinbare Mystik dann verstanden: Wenn der Schüler bereit ist, Schüler zu sein, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen und er erkennt den helfenden Lehrer, der schon die längste Zeit bei ihm steht und bis anhin eine mühsame, seltsame Gestalt war.

Eine seltsame Gestalt. Im Rahmen von Kursen mit Erwachsenen vielleicht auch eine ideologisierte, idealisierte, ein Verwirklichter, Guru – eine Projektionsfläche irgendwelcher Art, die Liste hierzu wäre lang. Oftmals anders herum als bei den SuS, die den Lehrer als Störfaktor wahrnehmen, ist bei Erwachsenen der Lehrer die eigentliche Attraktivität. (Siehe auch Reise zum Unmöglichen, erstes Kapitel). Und so kommen mir reihenweise Situationen in den Sinn, die sich mit der SuS-Situation vereinbaren lassen. Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer (wir könnten sie ja liebevoll KuK nennen), die wegen mir kamen statt der Bewegung. Eine Projektion ist starr, da ist keine Bewegung drin. Kein Raum, welchen die Bewegung zur Entfaltung bräuchte, sondern nur eine Fläche. Arbeitet man dann an der Dekonstruktion der Projektion, wird aus dem Idealisierten eine seltsame, dann oft auch mühsame Gestalt. Und tschüss. Im Gegensatz zu den SuS können das die KuK: und tschüss.

Die Dekonstruktion der Projektion bedeutet, dass der Lehrer als Mensch gesehen wird. Das Potenzial darin ist, dass die KuK sich dann auch als Menschen sehen können und vom Projekt der Selbst-Optimierung mit fixiertem Ziel ablassen und sich zu bewegen und zu leben beginnen.

Natürlich ist der Lehrer Teil eines Settings, sowohl bei den SuS als auch bei den KuK. In beiden Fällen ist das Beibringen ein sehr kleiner Teil und die eigentliche Praxis der Hauptteil. Wesentlicher Aspekt des Gelingens ist nicht so sehr die Motivation von außen, sondern die intrinsische Motivation. Dadurch wird der Lehrer zum Lehrer. Bevor diese intrinsische Motivation erwacht, ist er von außen gesehen ein Unterhalter – ein unterhaltsamer oder ein mühsamer. (Aus der Perspektive des Lehrers ist er einer, der auf zehntausend Arten versucht, diese intrinsische Motivation zu wecken.)

Und es geht noch weiter, zumindest im KuK-Alter: Wenn der Schüler bereit ist, verschwindet der Lehrer. Irgendwann ist es an der Zeit, damit aufzuhören, Schüler zu sein. Eine Affront-Aussage in unserer Zeit des Ideals ewiger Weiterbildung und lebenslangen Lernens. Ich habe nicht gesagt, es sei an der Zeit, zu lernen aufzuhören. Aber es kommt der Punkt, an welchem man ohne Lehrer lernt, weil man gelernt hat zu lernen. Diese Fähigkeit zu fördern ist die primäre Aufgabe eines Lehrers. Der Dialog geht weiter, aber die Rollenverteilung fällt weg (und das unendliche Spiel beginnt). Natürlich gibt es verschiedene Levels der Erfahrung – auch das fällt nicht weg. Und damit auch nicht der achtungsvolle Umgang miteinander.
Wenn der Schüler bereit ist, verschwindet der Lehrer. Das ist auch eine Aussage, die zweischneidig sein kann. Denn wer entscheidet über die Bereitschaft? Als junger Mensch kreiert man sich sein Umfeld, sein System, seine Praxis, seinen Tempel. Hier lauert die Gefahr, sich zu schnell einzunisten und zu verschließen, was sich aber nicht als ein Verschließen zeigt, sondern als Gewissheit. Man hat einen Standpunkt. Man hat sich einige Jahre lang etwas hart erarbeitet und ist nicht bereit, dies in einen völlig offenen Prozess einzubringen und zu hinterfragen. Diese Bereitschaft ist, nach meiner Erfahrung, eher eine Qualität, die mit dem Älterwerden wächst. Und die von der jüngeren Generation nicht als Stärke, sondern als Schwäche wahrgenommen wird. Andererseits ist es wichtig, die Unvoreingenommenheit und Unverbildetheit, welche die jüngere Generation einbringen kann, solange sie sie noch hat, anzunehmen und in die Betrachtungen, den Dialog, einzubeziehen.

So erscheint vielleicht plötzlich der Schüler als Lehrer. Das wäre dann ein Zeichen dafür, dass wir ein unendliches Spiel spielen.

 

 
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