Einfaches Bewegt-Sein

 
 

Der folgende Text stammt aus dem Buch Reise zum Unmöglichen (S. 7-11). Ich spreche hier von Erfahrungen, die ich wieder und wieder gemacht habe. Eine Rezension des Buches spricht von einer »liebevollen poetischen Sprache, die ins Innere des Menschen dringt«. Mir ist natürlich bewusst, dass sich dies nicht auf diese Passage beziehen kann 😊. Damit schließe ich die kleine Reihe zur kulturellen Aneignung ab (Teil 1 hier, Teil 2 hier).

Begonnen haben wir unser Korsika-Abenteuer vor vielen Jahren [Anm. irgendwann ganz am Anfang des Jahrtausends] mit Taiji und Qigong. Jahr für Jahr hat sich das Abenteuer weiter entwickelt. Yoga kam hinzu, andere Methoden fanden Einzug, doch ebenso allmählich fielen Konzepte, Kategorisierungen und Begriffe weg. Mehr und mehr kommen wir im einfachen Hier an. Im einfachen Bewegt-Sein.

Und das ist gut so.
Das ist mehr als gut.
Es ist der Weg.

[…] Es hat sich gezeigt, dass das Umherwandern auf dem heute allen offenen Marktplatz der Traditionen uns den ureigensten Weg verbaut. Den Weg, den wir in uns haben. Den Weg in unsere Natur.

So kommen Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Konzepten, von denen sie vielleicht selber nicht wissen, woher sie stammen, und die sie selber nicht verstehen, weil sie sich nicht damit befassen, sondern sie als Lebenshilfe nehmen, weil sie gerade dienlich sind. Doch spirituelle Weisheiten, welche die Jahrtausende überstehen, sind keine Lebenshilfen, und schon gar keine Selbst-Hilfen, und in keiner Weise Instant-Rezepte für individuelles Wohlbefinden. Es sind Hilfen, alles, was Nicht-Selbst ist, zu entlarven und sterben zu lassen. Sterbe-Hilfen, die uns alles abverlangen.

Solche Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen etwa mit Wahrnehmungs-Mustern, die aus dem Theravada-Buddhismus stammen und eine ganz bestimmte Weltsicht repräsentieren, welche aus einem bestimmten Kontext, in einem bestimmten Kontext und für einen bestimmten Kontext gewachsen sind. Jetzt werden sie aber für universale spirituelle Wahrheiten gehalten. Kein Wunder, erscheint dann der Ort, an dem wir uns bewegen, nur als normaler Ort. Denn wir sehen ihn durch eine Brille, die nicht für diesen Ort gemacht ist. Kein Wunder ist dann Bewegung ein Turnen, wenn sie nicht mit Erklärungen über das Absolute geschmückt wird. Kein Wunder ist dann das absolute Wunder der Schöpfung nicht erkennbar, wenn wir uns anschauen, wie die Schulter durch Adaption gestaltet wurde, um Gegenstände werfen zu können, wie es kein anderes Lebewesen auf diesem Planeten kann. Kein Wunder ist die Schönheit lebendiger Biologie dann nicht erkennbar, wenn wir die Beschaffenheit eines Wirbels der Wirbelsäule betrachten. Kein Wunder ist dann dieser Ort nur ein Ort. Wenn wir all dies in einem ganz fremden, beliebig aufgefundenen und für universal gehaltenen Kontext betrachten, sehen wir das Unmittelbare nicht. Das, was die Tradition in ihrem eigenen Kontext erzeugen wollte, das Erkennen des Unmittelbaren, wird im falschen Kontext zu dem, was diese Schau verhindert.

So verstellen wir uns den Weg zu uns selbst.

Und wir tun damit auch den Traditionen keinen Dienst. Wir praktizieren das, was der Westen am besten kann: Vereinnahmung. Das ist die westliche Vereinnahmung durch Funktionalisierung und scheinbare Innovation. Sei dies in einem romantisierenden Geist (Taiji ist «eine geheimnisvolle Bewegungskunst voller magischer Symbole»), als Reduzierung hochkomplexer Systeme auf eine leere Worthülse wie «Achtsamkeit», als Fitness-Kult mit Yoga-Selbstdarstellungs-Bilderflut in sozialen Netzwerken, wo schlanke Girls in fast nichts und tätowierte Kerle oben ohne posieren und allenfalls einen «Achtsamkeits»-Spruch hinzu schreiben.

Wir tun weder den Traditionen einen Dienst, wenn wir sie übernehmen und sie umformen. Dabei spielt es keine große Rolle, ob dies nach unserem besten Wissen und Gewissen oder nach Modetrends und Marketing-Strategien geschieht. Noch tun wir uns einen Dienst. Im Gegenteil. Wir kultivieren unsere Entfremdung und kleiden sie in ein hübsches Gewand, vielleicht auch in einen hübschen Körper. Denn natürlich tun wir dem Körper allein einen Dienst, wenn wir uns bewegen. Doch wir sind so viel mehr als Körper. Integrale Bewegung bewegt den ganzen Menschen. Der Körper-Kult ist nur ein weiterer Ausdruck des platonischen Weltbildes, in welchem wir nach Ideal-Körpern streben. Dieses Weltbild hat ausgedient. Je mehr wir es noch nähren, desto mehr geschieht dies auf Kosten von Gesundheit und Ganzheit, nicht nur individuell, sondern auch kollektiv und auf den Planeten bezogen. Bewegung wird funktionalisiert und dem Geist und seinen Ideen unterworfen. Das ist in keiner Weise das, was wir mit integraler Bewegung kultivieren.

Qigong dient heute der Stress-Reduktion, dem Erholen nach dem obligaten Burnout oder allenfalls der Prävention oder Hinauszögerung desselben. Daran ist nichts falsch. Doch es hilft, sich zu erinnern, dass Qigong nicht dafür entwickelt wurde.

Qigong ist Einbettung ins Ganze, ins Dao. Qigong hat eine Ausrichtung auf das Große. Yoga ist auch diese Einbettung. Yoga bedeutet verbinden, und zwar klar auf Gott hin, Athman und Brahman. Diese Ausrichtung wirkt auf das Große hin, nicht auf das kleine Ich und auf momentanes Wohlbefinden und Wellness. Und Taiji? Taiji ist eine Kampfkunst. Man schlägt, haut, stößt, womöglich gezielt in Punkte, um den größtmöglichen Effekt zu erzielen, wirft zu Boden. Selbst wenn wir Taiji im schützenden Geist und mit minimal invasivem Aufwand praktizieren: Taiji ist, wenn wir es als Taiji praktizieren, eine Kampfkunst. Selbst wenn diese Kampfkunst eine Friedens-Kunst ist: Sie ist eine Kampfkunst.

Unsere Kultur hat keine Bewegungs-Tradition. Körper und Geist wurden im Prozess, in welchem Mythos durch Rationalität ersetzt wurde, abgespalten. Das intim Erfahrbare wurde im Rahmen männlich-überheblicher Logik durch von jedermann Erklärbares verdrängt. Es fand eine Ent-Körperung statt, die heute einen neuen Höhepunkt erreicht.

Die Konsequenz davon baden wir heute in allen Bereichen aus. Doch das sind nicht die Wurzeln unserer Kultur, das ist bereits ihre Perversion in Unkultur. An unserer Wurzel liegt Mythos, das Intime, das Körperliche, die Empfindungs-Fähigkeit, und ja, das Heilige. Heilig heißt ganz. An der Wurzel unserer Kultur liegt die Realisation der Ganzheit, welche in alle Aspekte des Lebens und Zusammenlebens strömt.

Wir haben den Weg zu uns in uns.

Das Entscheidende ist unsere Bereitschaft, der Sehnsucht zu folgen, und nicht Räucherstäbchen, Mantras und leeren Worthülsen, die uns bezaubern. Entscheidend ist unsere Bereitschaft, der Realität so zu begegnen, wie sie tatsächlich ist, statt der von uns herunter gebrochenen, vereinfachten, erklärbaren, vernünftigen Schein-Realität.

Und hier hilft dieser Platz. Zumindest mir ist er ein Ort der Realität. Wieder und wieder zeigt er mir, was ist. Wo ich stehe, wer ich nicht bin, wer ich sein könnte, was ich zu tun habe. Er bewegt mich aus der Tiefe, und er bewegt mich in die Tiefe.

Und das ist, einfach gesagt, die Wurzel unserer Kultur. Einfach gesagt. So einfach, dass es schnell überlesen ist. Doch alles andere mündet in Worte, die so oft benutzt werden, dass sie längst zu leeren Worthülsen verkommen sind.

Der Weg zur Wurzel ist radikal. Radikal kommt vom Lateinischen radix für Wurzel. Wir kennen es vom Radieschen. Radikal bedeutet von Grund aus erfolgend, ganz und gar, vollständig, gründlich. Grundlegend. Der Weg zur Wurzel ist also in der Wurzel. Die Wurzel ist hier. Das ist gemeint, wenn ich sage, dass der Weg zu uns selbst in uns selbst ist. Die Wurzel ist die differenzierte Ungetrenntheit von Körper, Seele, Psyche und Geist. Die Wurzel ist Hier und Jetzt in ihrer Gesamtheit.

Und der Weg dazu? Wie soll es einen Weg zur Gesamtheit geben? Er müsste ja von ihr getrennt sein. Doch das gibt es nicht. Es gibt nichts Getrenntes. Es gibt nur die Illusion von Trennung. Hier kommen wir in die gefährliche Nähe von leeren Floskeln. Darum ist es besser, zu schweigen und ein paar Bewegungs-Impulse zu geben.

Der Weg ist die Dekonstruktion von illusorischen Trennungen. Durch und durch. Grundlegend. Man wird radikal auf sich selbst zurück geworfen. Auf das Helle und das Dunkle, das man ist. Die Werkzeuge für diese Dekonstruktion kommen nicht aus vergangenen Jahrtausenden und nicht aus fremden Kulturen. Sie sind alle hier, wenn wir uns kultivierend bewegen und still sind. Diese Werkzeuge – ganz einfache, simple, darum wieder schnell zu übersehende, schnell zu übergehende – werden in integraler Bewegung wieder und wieder ausgepackt, von verschiedensten Seiten in die Hände genommen und auf Verschiedenstes angewendet.

Es ist also alles da. Die Leistung ist es, dies nicht nur als Idee einleuchten zu lassen, sondern zu verkörpern und in klares Handeln umzusetzen.


 

REISE ZUM UNMÖGLICHEN

EINE CHRONIK DER BEWEGUNG

Martin Schmid | Sachbuch | 488 Seiten | Print und eBook

«Soviel bewegte Weisheit in einem Buch. Es ist gespickt mit einer liebevollen poetischen Sprache, die ins Innere des Menschen dringt.» –Rezension auf Amazon

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